Stets findet Überraschung statt – da wo man’s nicht erwartet hat …
Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
mit diesem Bonmont von Wilhelm Busch leiten wir in diesem Monat das Editorial des „Kompakt Ophthalmologie“ ein. In den Mittelpunkt dieser Ausgabe stellen wir dabei das Thema Vaskulitis der Retina, das aktuell unerwartet hohe Wellen schlägt.
Zunächst unerwartet im positiven Sinn: Obwohl die Zahlen von Infektionen mit SARS-CoV‑2 weltweit neue Höchststände erreichen, werden bisher keine schwerwiegenden Augenbeteiligungen berichtet. Dies überrascht. Eine der wichtigsten pathophysiologischen Endstrecken bei COVID-19-Opfern sind entzündliche Gefäßveränderungen. Mikroembolien schädigen Lunge, Niere, Haut und auch zentrales Nervensystem. Da verwundert es schon, dass ausgerechnet das ebenfalls sehr gut perfundierte Organ Auge nicht betroffen zu sein scheint. Erstaunlich auch insofern, da es einer Arbeitsgruppe aus Hamburger und Berliner Wissenschaftlern kürzlich gelang, SARS-CoV-2-RNA bei 3 von 14 Autopsien in der Retina von COVID-19-Patienten nachzuweisen (für Sie nachzulesen in der aktuellen Ausgabe von „Ocular Inflammation and Immunology“).
Überraschungen erleben wir dagegen an ganz anderer Stelle. Sie werden als ein Silberstreif am Horizont bei der Behandlung der neovaskulären AMD gesehen. Die Rede ist von zwei neuen Molekülen (Brolucizumab und Abicipar), die uns ein deutlich längeres Injektionsintervall bei gleicher Wirksamkeit verheißen. Die beiden Anti-VEGF-Inhibitoren sind das Ergebnis jüngster Fortschritte in der Bioengineering-Technologie. Gegenüber bisherigen anti-VEGF-Antikörpern sind sie wesentlich kleiner und weisen eine hohe Affinität auf. Dies ermöglicht es ihnen, bei niedrigeren Konzentrationen aktiv zu sein und das Gewebe besser zu durchdringen. In der Tat belegen aktuelle Studien vielversprechende Ergebnisse. Sie interessieren sich für die Entwicklung und grundlegenden Daten von Brolucizumab? Dann kann ich Ihnen die Übersichtsarbeit von Nguyen et al. empfehlen, die kürzlich in „Ophthalmology“ erschienen ist. Inzwischen liegen zudem bereits Langzeitergebnisse (96 Wochen) aus den Zulassungsstudien HAWK und HARRIER zu Brolucizumab vor, die in der aktuellen Ausgabe von „Ophthalmology“ präsentiert werden. Dugel et al. berichten hier, dass gegenüber Aflibercept bei behandlungs-naiven Augen mit neovaskulärer AMD eine signifikant stärkere Reduktion der zentralen „subfield thickness“ erreicht werden konnte.
Ebenfalls sehr ermutigende klinische Daten konnten mit dem zweiten Molekül, Abicipar, erreicht werden. Es bindet ähnlich wie Ranibizumab alle VEGF-A-Isoformen, weist jedoch gleichzeitig eine deutlich längere intraokulare Halbwertszeit auf (13 vs. 7 Tage).
Während Brolucizumab bereits auf dem umkämpften Markt angekommen ist, steht dies für Abicipar noch an. Die Chancen schienen gut. Um sich über die ersten klinischen Ergebnisse der Zulassungsstudien (SEQUOIA und CEDAR) konkret zu informieren, empfehle ich Ihnen die Lektüre der Arbeit von Kunimoto et al. in „Ophthalmology“. Kurz zusammengefasst erreichte Abicipar die vorgegebenen Studienendpunkte und konnte eine vergleichbar gute Wirkung wie Ranibizumab beweisen – dies allerdings mit deutlich weniger Injektionen, die es erlaubten, die Intervalle von 4 auf 12 Wochen zu verlängern.
Aber – und hier liegt das Überraschungsmoment – es wurden entzündliche Veränderungen beobachtet, die wir bisher nach intravitrealen Injektionen nicht kannten. Anteriore Uveitis, Präzipitate am Endothel der Cornea bis hin zu retinalen Vaskulitis. Zwar wurden die meisten Ereignisse als mild und unter lokaler Therapie als gut beherrschbar beschrieben, aber die Zulassung wurde zunächst ausgesetzt …
Duplizität der Ereignisse … Dazu beigetragen hat vermutlich, dass inzwischen auch für Brolucizumab diese Veränderungen bekannt wurden. Die ersten Berichte über intraokulare Entzündungen nach Injektion von Beovue (Brolucizumab) erschienen im Februar des Jahres. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits mehr als 70.000 Injektionen erfolgt – bei zumindest 26 Augen gefolgt von unterschiedlich ausgeprägten entzündlichen Veränderungen. Auch hier wurden überwiegend anteriore Uveitiden beobachtet. Allerdings fanden sich auch okklusive Vaskulitiden, die mit Cotton-Wool-Herden, Non-Perfusion und venösen Blutungen einhergingen. Interessiert? Alarmiert? Dann empfehle ich ihnen die Lektüre der Arbeit von Baumal et al. (Boston, USA). Sie haben in „Ophthalmology“ die klinischen Beobachtungen von 12 Vaskulitis-Patienten aus 10 US-amerikanischen Behandlungszentren zusammengetragen. Alle Patienten waren bereits mehrfach vorbehandelt und entwickelten durchschnittlich 30 Tage nach Injektion eine okulare Vaskulitis. Die Behandlung erfolgte mit Kombinationen aus lokalen, systemischen und intravitrealen Corticosteroiden und auch Vitrektomien – für einige Patienten leider ohne Erfolg, und eine permanente Visusminderung verblieb. Die Autoren folgern aus ihrer Zusammenstellung, dass diese bisher völlig unerwarteten Zwischenfälle eine hohe Sensitivität der Behandler erfordern. Damit ergeben sich in der täglichen Praxis völlig neue Aspekte für AMD Patienten unter Brolucizumab. Da die intraokularen Entzündungen noch im späten Verlauf auftraten, bleiben u.a. Fragen zum Zeitpunkt und auch der Durchführung des Monitorrings (z.B. wann Angiographie?) nach Injektion offen. Zudem scheint es ratsam sich mit der retinalen Vaskulitis vertraut zu machen.
Zufall oder nicht? In der aktuellen Ausgabe von „Survey of Ophthalmology“ haben sich zwei ausgewiesene Experten des Themas angenommen und schlagen eine Klassifikation für die retinale Vaskulitis vor.
Überraschung vielleicht auch hier? Bisher gibt es keine Einigung auf ein gültiges Klassifikationssystem. Bei der klassischen SUN (Standardization of Uveitis Nomenclature) Definition der intraokularen Entzündung blieb die Vaskulitis bisher ausgespart.
Auch wenn wir überzeugt sind, dass wir als Ophthalmologen den Gefäßstatus sehr gut „im Blick haben“, herrscht bei näherer Betrachtung doch ein lückenhaftes Verständnis vor. In Ermangelung von histopathologischen Untersuchungen sind wir überwiegend auf sekundäre klinische Veränderungen und die Angiographie der Netzhautgefäße angewiesen. Die Vaskulitis der Retina könnte somit überraschend in den Fokus klinischen Alltags rücken.
Bleibt zu hoffen, dass die aktuelle Unsicherheit bald beseitigt und die Ursachen identifiziert sind. Es wäre sicherlich bedauerlich, wenn die Behandlung mit diesen vielversprechenden und effektiven Wirkstoffen nicht zugunsten unserer vielen AMD-Patienten erfolgreich fortgesetzt werden könnte.
Mit diesen aktuellen Hinweisen hoffen wir Ihnen einen Anstoß zur weiteren Lektüre zu bieten und setzen uns dafür ein, Sie auch künftig gegenüber „Überraschungen“ möglichst zu wappnen …
Herzlichst
Ihr Uwe Pleyer und das Team von „Ophthalmologie Kompakt“