Liebe Leserinnen und Leser von Kompakt Ophthalmologie,
schon wieder ist das Jahr fast halb vorbei, und viele Dinge geschehen um uns herum.
Für uns Ärzte war sicher die Wiederwahl von Klaus Reinhardt zum Ärztepräsident in der vorletzten Woche ein spannendes Ereignis. Es bleibt damit ein Vertreter der rund 550.000 deutschen Ärzte in der Leitung der Bundesärztekammer im Amt, der auf eine lange Zeit als praktizierender Arzt zurückblicken kann. Somit bringt er sicher die notwendige Erfahrung mit, um uns Ärzte in den schwieriger werdenden Zeiten optimal zu vertreten. Schon in Corona-Zeiten hat Reinhardt gezeigt, dass er nicht immer mit der Politik konform geht, sondern andere Meinungen offen vertritt. In seiner Abschlussrede, für die er Standing Ovations bekam, ging er insbesondere hart mit unserem Gesundheitsminister ins Gericht und sprach sich für einen Paradigmenwechsel im Gesundheitssystem aus. Vor allem der Fachkräftemangel werde von der Politik vollkommen unterschätzt. Diese Aussage können wir als Ärzte wohl nur voll und ganz unterschreiben. Reinhardt betonte, dass das Thema Gesundheit ebenso zukunftsweisend diskutiert werden solle wie das Thema Klima. In unserer Zeit eine mutige und richtige Aussage. Wir Mediziner müssten uns „stärker mit abgestimmten Vorschlägen in die Gesundpolitik einmischen“, damit die Politik die Vorschläge berücksichtigen muss. Dies gelte auch für den Bürokratieabbau – Ärzte wollen behandeln, nicht verwalten. Hoffentlich können wir in vier Jahren bei der nächsten Wahl auf eine erfolgreiche Präsidentenzeit von Reinhardt und seiner Stellvertreterin Susanne Johna zurückblicken. Johna vertritt als Vorsitzende des Marburger Bundes insbesondere die Interessen der zahlreichen angestellten Ärzte in Deutschland.
Nach dem kleinen, aber, wie ich finde, wichtigen standespolitischen Exkurs, nun zu interessanten neuen Erkenntnissen auf unserem Fachgebiet. Nachdem ich meinen Schwerpunkt im April-Editorial auf die Bindehaut gelegt hatte, möchte ich mich nun heute der Hornhaut zuwenden. Natürlich soll der Fokus nicht auf Infektionen liegen. Hierzu hat Professor Pleyer im vergangenen Monat ein wirklich wunderbares Editorial vorgelegt.
Im Bereich der refraktiven Hornhautchirurgie stehen uns mit der PRK, der Lasik und der SMILE-Technik sehr sichere und effektive Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, um die Mehrheit der menschlichen Refraktionsfehler erfolgreich zu behandeln. Hierbei bekommt man aber die guten postoperativen Resultate wie so oft im Leben nicht umsonst. Damit ist nicht der finanzielle Aspekt gemeint, sondern der für die Prozedur notwendige Gewebeabtrag im Bereich der Hornhaut. Bei sicherer Indikationsstellung und bei Behandlungen im Bereich der Anwendungsbereiche sind die Behandlungen trotz des Gewebeverlustes aber natürlich als sicher und effizient anzusehen. Dennoch bleibt immer das mögliche Restrisiko für eine Schwächung der Stabilität und konsekutiver Keratektasie. Eine Korrektur von Brechungsfehlern, die ohne Opferung von Gewebe der intakten Hornhaut durchführbar wäre, würde natürlich einen großen Vorteil aufweisen. Stokolosa et al. veröffentlichten Anfang des Jahres hierzu eine spannende Publikation.
Bekanntermaßen sind die Kollagenfibrillen der Hornhaut für die Stabilität und Form bzw. die Kurvatur und somit auch für die Brechkraft mitverantwortlich. Die koreanischen Forscher konnten demonstrieren, dass eine nachweisebare Veränderung der Brechkraft ohne Einfluss auf die Transparenz im Tierversuch möglich ist. Hierzu wurden Ex-vivo-Kaninchenaugen mit dem sogenannten Elektromechanischen Reshaping behandelt. Bei dieser komplexen Vorgehensweise kann ein kurzer elektrochemischer Impuls das ionische Verbindungs-Netzwerk des Kollagengewebes kurzfristig so beeinflussen, dass eine mechanische Formveränderung möglich ist. Für die Änderung der Kurvatur wurden spezielle Kontaktlinsen genutzt. Nach Anpassung der physiologischen Zustände in der Matrix bleibt der Effekt der mechanischen Formveränderung bestehen. Das Gewebe begibt sich also nicht mehr in die vorherbestehende Kurvatur zurück. Der Effekt konnte im Tierversuch mittels OCT und konfokaler Mikroskopie nachgewiesen werden. Die Forscher folgern aus ihren Ergebnissen, dass diese elektromechanische Therapie möglicherweise eine kostengünstige und sichere Alternative zu den bestehenden Verfahren zur Laserkorrektur darstellen könnte. Bis zur klinischen Anwendung bleibt es für diese spannende Technologie sicher noch ein langer Weg. Aufgrund der Gewebeschonung und der wegen der geringen Invasivität auch sicher geringen Komplikationsrate dieses Verfahrens bleibt den Forschern zu wünschen, dass sie diesen Weg weiterverfolgen.
Die Tranzparenz der Hornhaut ist durch viele unterschiedliche Krankheitsbilder gefährdet, und eine Verminderung führt zu einer verminderten Sehqualität und schließlich auch zu einer Visusminderung. Bei diesen Prozessen spielen bekanntermaßen Gefäßproliferationen in der eigentlich nicht perfundierten Hornhaut eine entscheidende Rolle. Weniger bekannt ist aber auch die Lymphangiogenese. Hierzu erschien gerade ein umfangreiches Review, welches dieses komplexe Geschehen erhellt (Patnam M et al. Lymphangiogenesis Guidance Mechanisms and Therapeutic Implications in Pathological States of the Cornea. Cells 2023;12(2):319.).
Die Lymphangiogenese stellt eine Komponente der Neovaskularisation der Hornhaut in verschiedenen entzündlichen Prozessen und dem trockenen Auge dar. Ein entscheidender Regulator für die Lymphangiogenese ist VEGF C sowie A und D. Bei Geburt wird das Privileg der Hornhaut der Avaskularität durch antiangiotische Eigenschaften des Limbus und des Stromas determiniert und im Laufe des Lebens bei Fehlen von entzündlichen Prozessen auch aufrechterhalten. Lymphatische Endothelzellen, welche durch unterschiedliche Signale zur Migration angeregt werden, spielen bei diesen Prozessen eine entscheidende Rolle. Neben den sehr bekannten VEGF spielen aber noch zahlreiche andere Botenstoffe wie Basic Fibroblast Growth Factor, das Molekül Neuropilin‑2, Ephrin-Epin-Signalprozesse, der Wtn/Canetin Pfad, welcher für lymphatische Klappen mitverantwortet, oder die Familie der Netrin-Proteine – um nur einige zu nennen – eine wichtige Rolle. Die Lektüre des Review zeigt deutlich auf, wie komplex die pathologischen Vorgänge im menschlichen Körper sind, wodurch auch die Therapie eine Vielzahl von möglichen noch wenig erforschten Ansatzpunkten nutzen kann.
Eine deutlich mehr klinisch orientierte Publikation über die Diagnostik der Hornhaut aus dem April 2023 zur Anwendung eines „Convolutional Neural Network“ stammt von Fassbind et al. Zu Deutsch bedeutet dies „faltendes neuronales Netzwerk“. Es handelt sich um ein künstliches Netzwerk, welches von biologischen Prozessen inspiriert ist und Konzepte des Maschinellen Lernens nutzt. Es wird in zahlreichen Prozessen der künstlichen Intelligenz vor allem zur Bearbeitung von Bild- und Audiodateien eingesetzt. Somit bildet die Augenheilkunde mit ihren zahlreichen Bilddateien wie z.B. der Topographie oder des OCT natürlich ein perfektes Anwendungsgebiet. In der Studie wurden 1940 konsekutive Scans, welche mit dem OCT-Vorderabschnittsgerät CASIA 2 durchgeführt wurden, analysiert. Hierbei zog man das ConvNeXt-Netzwerk zur Analyse heran.
Die Autoren konnten zeigen, dass es dem Netzwerk möglich ist, mit einer Sensitivität von 98,46% und einer Spezifität von 91,96% eine gesunde von einer pathologischen Hornhaut zu unterscheiden und auch die Klassifikation von häufigen Erkrankungen wie dem Keratokonus vorzunehmen. Interessanterweise kann das Netzwerk auch Dateien anderer Topographie-Geräte auswerten und die Bereiche der Hornhaut kennzeichnen, welche zur Diagnosefindung herangezogen werden. Obwohl all diese Technologien noch am Anfang stehen, kann man sich schon jetzt fragen, inwieweit der „normale“ Augenarzt in der Lage ist, mit gleicher Spezifität und Sensitivität zu arbeiten. Daraus ergeben sich auch interessante neue ethische und rechtliche Fragestellungen. Wann kommt der Zeitpunkt, an dem wir nicht mehr selber analysieren sollten und den Netzwerken die Analyse überlassen? Werden wir irgendwann verpflichtet, uns großen diagnostischen Netzwerken zur Analyse unserer Daten anzuschließen? Die Zukunft wird in den nächsten Jahren sicherlich hochspannend, da die Entwicklungen zurzeit mit unglaublichem Tempo voranschreiten.
Zum Abschluss aber nun doch noch ein kleiner Exkurs in den Bereich der entzündlichen Erkrankungen. Glücklicherweise sind die aufreibenden Corona-Zeiten vorbei und unsere tägliche Arbeit wird nicht mehr von Masken, Schnelltestests und Inzidenzen bestimmt. SARS-CoV‑2 bleibt aber dennoch im Interesse der Wissenschaft.
Bayyoud et al. untersuchten Hornhautgewebe von Patienten, die an einer Corona-Infektion verstorben waren. Die Forschergruppe wollte herausfinden, ob in standardisierten Kulturbedingungen nach 4 Wochen replikationsfähige Viren nachgewiesen werden könnten. Außerdem wurden parallel Epithelzellen gesunder Probanden mit SARS-CoV‑2 und Cystomegalieviren als Kontrollgruppe infiziert. Der Infektionsstatus wurde über Western Blot Reporter Gen Expression sowie mittels PCR-Test analysiert. In den zehn untersuchten Hornhäuten konnten keine replikationsfähigen Viren isoliert werden. Auch in den ex vivo infizierten Epithelzellen gelang kein Erregernachweis von SARS-CoV‑2, wohingegen CMV nachweisbar war. Die Daten lassen den Schluss zu, dass auch im normalen Leben die Hornhaut und die limbalen Epithelzellen resistent gegen die Vermehrung von SARS-CoV‑2 sind. Dies ist im Hinblick auf die Sicherheit von Hornhautspendergewebe doch eine sehr erfreuliche Nachricht.
Mit diesem positiven Abschluss möchte ich mich von Ihnen verabschieden und wünscht allen einen guten Start in einen schönen und friedlichen Sommer.
Ihr Detlef Holland