Liebe Leserinnen und Leser von Kompakt Ophthalmologie,
wieder neigt sich ein verrücktes Jahr dem Ende entgegen. Der Krieg in der Ukraine, welchen wir auch schon hier thematisiert haben, beherrscht immer noch unseren Alltag und die Zukunft unseres Landes. Auch die in Deutschland nicht enden wollende Pandemie hat immer noch Einfluss auf unseren Alltag und unser Arbeitsleben. Dennoch erweist sich unser Leben doch auch als robust gegen diese negativen Einflüsse, und es zeigt sich doch in vielen Bereichen, dass der Alltag zurückkehrt. Der Optimismus sollte niemals untergehen und unsere Lebensphilosophie stärken.
Mit den positiven Entwicklungen, welche sich auch manchmal nur in kleinen, sehr umschriebenen Bereichen der Medizin zeigen, möchte ich auch nun den Einstieg in den medizinischen Teil dieses Editorials machen.
In der Gentherapie zeigten sich aktuell auf unserem Fachgebiet hoffnungsvolle Ansätze zur Behandlung genetischer Defekte. Gentherapie ist eine komplexe Form der Behandlung, hinter welcher sich unterschiedliche Ansätze verbergen, wobei das Ziel die Korrektur krankheitsverursachender Gene durch Anwendung rekombinanter DNA-Techniken ist. Somit sollen genetisch verursachte Erkrankungen behandelt oder einem Auftreten vorgebeugt werden. Durch den Einsatz rekombinanter Nukleinsäuren wie DNA oder RNA wird die Nukleinsäuresequenz beim Menschen entweder reguliert, repariert, ersetzt, hinzugefügt oder sogar entfernt. Die dabei z.B. in menschliche Zellen eingebrachten Gene werden dabei als Gentherapeutika bezeichnet. Dabei kann die Therapie zum einen nur in den Zellen des behandelten Patienten wirken, aber auch im Rahmen der Keimbahntherapie über die Anwendung an embryonalen Zellen vererbt werden. Diese Form der Gentherapie ist in Deutschland jedoch aufgrund des Embryonenschutzgesetztes verboten. Mit dem sogenannten Genome Editing, welches sich in den vergangenen Jahren in der Forschung immer weiter verbreitet, versucht man, hochpräzise defekte Gensequenzen zu reparieren. Zur Durchführung von Gentherapie sind unzählige Studien und natürlich auch Grundlagenforschung über die genetischen Ursachen von Erkrankungen und deren genaue genetische Lokalisation notwendig. Insgesamt sind daher auch noch nicht viele Gentherapien in der weiten klinischen Anwendung. Hierbei ist zu bedenken, dass diese Forschung natürlich auch unglaublich teurer und folglich auch die klinische Anwendung mit erheblichen Kosten für das Gesundheitssystem verbunden ist.
Ich möchte in der Folge auf einige aktuelle Anwendungen in der Augenheilkunde eingehen.
Kürzlich wurde in der Zeitschrift „Brain“ in einer Studie über zwei Fälle berichtet, in denen eine subretinale Gentherapie bei der angeborenen Achromatopsie, also der vollständigen Farbenblindheit, Ergebnisse zeigte, die hoffen lassen. Eines von 30.000 Kindern wird mit Defekten in den Genen CNGA3 oder CNGB3 geboren. Diese kodieren Teile eines Membrankanals („cyclic nucleotide-gated cation channel“), welcher in den Zapfen benötigt wird und bei einem Defekt zum vollständigen Ausfall führt. Die Klinik wird durch Farbenblindheit, einen schlechten Visus, erhöhte Blendempfindlichkeit und Nystagmus gekennzeichnet. Bisherige Tests an Erwachsenen zeigten noch keine durchschlagenden Ergebnisse, wohingegen erste Ergebnisse von zwei in London am Institute of Ophthtalmology laufenden Studien an vier Probanden vielversprechende Resultate zeigen. Dabei wurde durch komplexe Tests die Aktivierung von Zapfen in den Probanden nachgewiesen. Im ersten Test zeigte eine funktionelle Magnetresonanztomographie eine Aktivierung von Hirnarealen in der Sehrinde über die Veränderung der Blutoxygenierung nach Stimulierung durch farbige Lichtsignale bei zwei Patienten sechs bis vierzehn Monate nach der subretinalen Gentherapie. In einem zweiten Test wurde geprüft, inwieweit Farbkontraste wahrgenommen werden konnten, was bei den gleichen zwei Patienten im Gegensatz zur Kontrollgruppe ebenfalls der Fall war. Objektive und subjektive Tests konnten also positive Effekte nachweisen. Welche klinische Relevanz diese ersten Ergebnisse haben werden, bleibt allerdings noch offen, da bei den Patienten kein relevanter Visusanstieg gemessen werden konnte.
In der Zeitschrift „Stem Cell Reports“ wurde aktuell über erste experimentelle Studienergebnisse zur Behandlung von Gendefekten im Zusammenhang mit der Leber´schen kongenitalen Amaurose (LCA) berichtet. Die Fortschritte in der Genetik verändern zunehmend auch die Nosologie. So liegen der angeborenen Amaurose, die der Augenarzt Theodor Leber 1869 beschrieb, Mutationen in mindestens 25 Genen zugrunde, die über die Chromosomen verteilt sind. Alle führen zu einer Dysplasie der Retina, wenn auch über unterschiedliche Pathomechanismen, und teilweise sind die Auswirkungen nicht nur auf die Netzhaut beschränkt. Eine Mutation des IQ Calmodulin-binding Motif containing (IQCB1)/NPHP5 B1-Gens, welches das ziliare Protein Nephrocystin 5 kodiert, führt zu einer frühen Erblindung in Kombination mit eine Nierendysfunktion beim sogenannten Senior-Løken-Syndrom. In einem In-vitro-Experiment wurden von erkrankten Patienten mit NPHP5-LCA dermale Fibroblasten gewonnen und in pluripotente Stammzellen reprogrammiert. Im Anschluss erfolgte eine Differenzierung in Pigmentepithelzellen und retinale Organoide. Organoide sind im Labor erzeugte kleine Gewebestücke, welche ursprünglichen Geweben wie z.B. Leberzellen oder eben hier der Retina ähneln. In der regenerativen Medizin und Stammzellforschung finden diese eine weitreichende Anwendung. Die produzierten Fibroblasten und RPE-Zellen und Organoide zeigten pathologisch veränderte Ziliar-Strukturen. Durch eine hochspezifische Therapie mittels einer Adeno-assoziierten Virus (AAV) IQCB1/NPHP5-Gen-Therapie konnte im Labor gezeigt werden, dass in den erkrankten Organoiden Ziliare gerettet wurden und nicht infolge des Gendefektes zugrunde gingen. Die Autoren folgerten daraus, dass mithilfe dieses Modells mögliche Therapien für den Menschen vorbereitet werden könnten.
Diese beiden erstgenannten Studien beschäftigen sich mit Krankheiten, welche nur sehr wenige Menschen betreffen. Trotzdem können diese Studien und die damit verbundene Grundlagenforschung dazu dienen, auch Therapien von Erkrankungen mit einer höheren Prävalenz vorzubereiten. Mit einer globalen Prävalenz von 8% ist die Altersabhängige Makuladegeneration (AMD) sehr häufig. Eine kürzlich im „International Journal of Molecular Sience“ erschienene Übersichtsarbeit (Stradiotto E et al. Genetic Aspects of Age-Related Macular Degeneration and Their Therapeutic Potential. Int J Mol Sci 2022;23(21):13280) gibt einen guten Überblick über den Wissenstand zu genetischen Aspekten und deren möglichen Einfluss auf gentherapeutische Ansätze auf diesem Gebiet.
Die AMD ist eine komplexe Erkrankung mit multifaktoriellen Ursachen. Sowohl externe Faktoren wie z.B. Rauchen, aber auch genetische Faktoren bestimmen die Entstehung der Degeneration. Immer mehr Hinweise auf genetische Aspekte bestimmen die Forschung in Bezug auf die AMD, und somit richtet sich der Blick immer stärker in Richtung der Gentherapie.
In diesem Zusammenhang wurden genetische Tests und polygenetische Scores entwickelt, um das Risiko einer Entstehung und ein mögliches Ansprechen auf eine Gentherapie zu evaluieren. Eine wachsende Anzahl von Gen-Mutationen wurde in den vergangenen Jahren aufgrund sogenannter Genome-wide Assosiation Studies (GWASs) gefunden. In diesem Zusammenhang gibt es zahlreiche Moleküle, die sich als potenzielle Anwärter für mögliche Gentherapien in der Pipeline befinden. Bisher gibt es jedoch noch keinen gesicherten gentherapeutischen Ansatz, welcher mit einem verbesserten Visusausgang verbunden wäre. Wir stehen also immer noch am Anfang der Entwicklung. Ein Fokus liegt hier insbesondere auf dem Komplementsystem innerhalb des Immunsystems, dessen Überaktivität ein wichtiger Faktor in der Pathogenese der AMD ist. Verwerfungen in der Homeostase in diesem System sind häufig ein letzter Schritt in der pathologischen Kaskade der Degeneration. Hierbei sind oxidativer Stress und Entzündung ein wichtiger Faktor. Daher ist die Modulation von Proteinen des Komplementsystems ein vielversprechender Ansatz in der Therapie. Die Autoren beschäftigen sich auch mit dem Gentherapeutikum Luxturna für die frühkindliche Nachdystrophie, welche zu dem Formenkreis der bereits erwähnten LCA gehört. Hierbei spielt das defekte Gen RPE65 die ursächliche Rolle. Das Gen ist vor allem im retinalen Pigmentepithel für die Funktion des Rhodopsin verantwortlich. 2018 in den USA zugelassen, zeigten Studien mit diesem Wirkstoff signifikante therapeutische Erfolge.
Schauen wir doch auf die extrem hohen Therapiekosten von ca. 600.000 Euro bei einem Auftreten von 1 auf 33.000–50.000 Kindern, so sehen wir das Dilemma, in welchem die Gentherapie im Bereich der Augenheilkunde wie auch in anderen Bereichen zurzeit noch immer steckt. Zum einen sind wir noch im Bereich der kostenintensiven Grundlagenforschung, zum anderen können wir erst erfolgreich seltenen Erkrankungen mit sehr kostenintensiven Gentherapeutika behandeln.
Die bisher bestehenden Erkenntnisse sollten dennoch positiv bewertet werden. Sicherlich wird gerade der Grundstein für die Zukunft der Gentherapie gelegt. Bei immer mehr Krankheitsbildern zeigen sich genetische Effekte, die es zunächst zu analysieren und später nach gentherapeutischen Therapien zu erforschen gilt.
Es besteht berechtigter Anlass zum Optimismus. Es ist sicherlich nur eine Frage der Zeit.
Mit einer aktuellen Arbeit aus dem refraktiven Bereich, die mir persönlich besonders erwähnenswert erscheint, möchte ich zum Abschluss dieses Editorials das Gebiet der Gentherapie verlassen. Knecht et al. untersuchten in einer klinischen Studie die Ergebnisse nach monolateraler Implantation einer Add On MIOL mit +3.0 Addition. Es wurde dabei 3 Monate nach bilateraler Monofokallinsenimplantation die Add On MIOL implantiert. Als Kontrollgruppe diente ein Kollektiv, in dem beidseits eine Monofokallinse implantiert und eine minimale Monovision von bis zu ‑0.5 dpt angestrebt wurde. Drei Monate nach der Operation wurden neben dem Fern‑, Nah- und Intermediärvisus auch eine Befragung mittels Quality of Vision Questionaire und Visual Function Questionaire durchgeführt. Neben dem besseren unkorrigierten Nah- und Intermediärvisus zeigte sich nach der unilateralen multifokalen Add-On-Implantation ein guter Fernvisus ohne Verschlechterung der Sehqualität und eine hohe Brillenunabhängigkeit im Vergleich zur monofokalen Kontrollgruppe. Die Studie verdeutlicht, dass in der Medizin häufig mit wenig Aufwand viel erreicht werden kann. Bereits eine einseitige Multifokallinsenimplantation erzielt sehr gute funktionelle Ergebnisse und eine hohe Patientenzufriedenheit. Vielleicht wäre es ein guter Vorsatz für das neue Jahr, einmal vermehrt an diese unkomplizierte Therapieoption zum Wohle der Patienten zu denken.
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest und alles Gute für das neue Jahr.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Detlef Holland