Wich­tig: Den Über­blick über die Forschung in Teil­ge­bie­ten behalten

 

Dr. Detlef Holland, Heraus­ge­ber „Surgi­cal“ © privat

Sehr geehr­te Lese­rin­nen und Leser von Kompakt Ophthalmologie,

das neue Jahr star­tet schon wieder mit einem unglaub­li­chen Tempo. Viele gute Vorsät­ze müssen leider manch­mal schnell verwor­fen werden. So musste ich bedau­er­li­cher­wei­se auch fest­stel­len, dass mein Vorsatz, das Edito­ri­al immer früh­zei­tig zu schrei­ben, leider direkt zu Jahres­be­ginn nicht erfüllt wurde. Daher erscheint mein Edito­ri­al leider erst zum Valen­tins­tag. Vom rich­ti­gen Blick­win­kel aus betrach­tet, ist dies doch aber eigent­lich auch ein schö­nes Datum.

In den ersten Wochen des Jahres sind schon zahl­rei­che inter­es­san­te Publi­ka­tio­nen in unse­rem Fach­ge­biet publi­ziert worden. Choksi et al. berich­te­ten im Januar im „Jour­nal of Regu­la­to­ry Toxi­co­lo­gy and Phar­ma­co­lo­gy“ (2024;146:105543) über eine retro­spek­ti­ve Unter­su­chung bezüg­lich der mögli­chen Augen­schä­di­gun­gen durch chemi­sche Substan­zen, welche in der Agrar-Indus­trie einge­setzt werden.
Die Orga­ni­sa­ti­on für wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit und Entwick­lung (OECD) hat Leit­li­ni­en für die In-vitro-Testung von Substan­zen bezüg­lich ihrer mögli­chen Potenz zur Schä­di­gung der Augen erstellt. Für den großen Bereich der agro­che­mi­schen Substan­zen liegen zur Zeit jedoch wenige Daten vor. Die Autoren haben daher retro­spek­tiv in vivo und in vitro Daten von 192 chemi­schen Substan­zen analy­siert. Für mehr als 75 Jahre wurde vorwie­gend ein In-vivo-Test an Hasen – der soge­nann­te Draize Eye Test – für die Testung von Substan­zen ange­wen­det.
Da der Test jedoch für Varia­tio­nen unter den Tieren sowie auch für Beob­ach­tungs­feh­ler anfäl­lig ist, ist die Repro­du­zier­bar­keit des Tests nicht opti­mal. Auch aus ethi­schen Grün­den ist es daher sinn­voll, andere Syste­me zu entwi­ckeln. Ein Beispiel dafür ist das soge­nann­te United Nati­ons Global­ly Harmoi­zed System for Clas­si­fi­ca­ti­on and Label­ling of Chemi­cals (GHS). Dabei wird die Konzen­tra­ti­ons­schwel­le von Einzel­sub­stan­zen als Richt­li­nie für poten­zi­el­le Schä­di­gun­gen von Haut und Auge heran­ge­zo­gen, um daraus die mögli­che Schäd­lich­keit von Substanz­mi­schun­gen ohne Tier­ver­such zu evalu­ie­ren.
Zahl­rei­che In-vitro-Test­me­tho­den für die Irri­ta­ti­on des Auges durch Substan­zen wurden bisher vali­diert. Einzel­ne dieser Tests wurden, wie bereits erwähnt, von der OECD als Guide­li­nes adap­tiert, wodurch auch der Daten­aus­tausch zwischen Ländern erleich­tert wird und damit unnö­ti­ge Doppel­tes­tun­gen vermie­den werden können.
Die Autoren konn­ten nun für den Agrar­be­reich durch ihre Daten­ana­ly­se folgern, dass die In-vitro-Testun­gen eine sehr hohe Vorher­sag­bar­keit für die mögli­che Schä­di­gung des Auges durch verschie­de­ne Substan­zen und Substanz­mi­schun­gen zeigen. Tier­ver­su­che und inten­si­ve Einzel­tes­tun­gen könn­ten somit redu­ziert werden. In der Zukunft wird hier sicher­lich auch für weite­re Analy­sen der vorlie­gen­den Daten­la­ge die Künst­li­che Intel­li­genz von großer Bedeu­tung sein.

Einem ganz ande­ren Themen­kreis aus der Neurooph­thal­mo­lo­gie widme­ten sich Cheng et al. in der Zeit­schrift „Atten­ti­on, Percep­ti­on & Psycho­phy­sics“ (2024;86:579–586). Die Fähig­keit des Menschen, Bewe­gun­gen schnell zu erken­nen und zu analy­sie­ren, ist für das Über­le­ben und die zwischen­mensch­li­che Kommu­ni­ka­ti­on von grund­le­gen­der Bedeu­tung. Inter­es­san­ter­wei­se wird die Wahr­neh­mung von Bewe­gun­gen jedoch stark beein­träch­tigt, wenn diese verkehrt­her­um darge­bo­ten werden – das Bild also im wahrs­ten Sinne des Wortes auf dem Kopf steht. Es wird ange­nom­men, dass dieser bekann­te Inver­si­ons­ef­fekt durch einen Mecha­nis­mus zur Erken­nung von Bewe­gun­gen verur­sacht wird, welcher stark auf schwer­kraft­kom­pa­ti­ble Bewe­gungs­si­gna­le abge­stimmt ist. Hier zeigt sich, wie sehr die mensch­li­che Evolu­ti­on durch die Schwer­kraft auf unse­rem Plan­ten beein­flusst wurde. In der aktu­el­len Studie haben die Autoren den soge­nann­ten Inver­si­ons­ef­fekt in der Bewe­gungs­wahr­neh­mung mithil­fe einer No-Report-Pupil­lo­me­trie bewer­tet. Die Autoren fanden dabei heraus, dass die Pupil­len­grö­ße deut­lich vergrö­ßert war, wenn Beob­ach­ter aufrech­te, schwer­kraft­kom­pa­ti­ble Bewe­gungs­mus­ter betrach­te­ten, vergli­chen mit den umge­kehr­ten, schwer­kraft­in­kom­pa­ti­blen Gegen­stü­cken. Diese Ergeb­nis­se zeigen, dass die Größe der Pupil­le die Wahr­neh­mung von schwer­kraft­ab­hän­gi­gen Bewe­gun­gen signa­li­sie­ren kann. Noch wich­ti­ger ist nach Auffas­sung der Autoren, dass die aktu­el­le Studie mit der Einfach­heit der Durch­füh­rung, der Objek­ti­vi­tät und Nicht­in­va­si­vi­tät der Pupil­lo­me­trie den Weg für weite­re poten­zi­el­le Anwen­dun­gen von Pupil­len­re­ak­tio­nen ebnen kann. So könne beispiels­wei­se die Pupil­lo­me­trie auch bei der Erken­nung von Defi­zi­ten der Wahr­neh­mung Bewe­gun­gen bei Perso­nen mit sozio-kogni­ti­ven Störun­gen hilf­reich sein und somit ein neues Feld der Forschung aufzeigen.

Im wahrs­ten Sinne weit entfernt von dem sensi­ti­ven Gebiet der Neuro­op­thal­mo­lo­gie bewe­gen sich Ali et al. mit einer inter­es­san­ten Über­sichts­ar­beit in „Ophthal­mic Plastic & Recon­struc­ti­ve Surge­ry“ (2024;40(1):30–33), welche sich mit den im wahrs­ten Sinne des Wortes harten Fakten von Dakryo­li­then beschäf­tigt. Der Begriff Dakryo­li­then bezieht sich auf Konkre­men­te im Tränen­sys­tem. Wenn der Begriff „Dakryo­lith“ nicht spezi­fi­ziert ist, bezieht er sich norma­ler­wei­se auf nicht­in­fek­tiö­se Formen. Diese werden übli­cher­wei­se im Tränen­sack und im Tränen­na­sen­gang medi­zi­nisch auffäl­lig. Häufi­ger werden sie aber zufäl­lig während einer Dakryo­zy­s­tor­hi­no­s­to­mie diagnos­ti­ziert, wobei die Inzi­denz bei allen Dakryo­zy­s­tor­hi­no­s­to­mie-Opera­tio­nen  bei 5,7% bis zu 18% liegt. Die Dakryo­li­thia­sis ist ein komple­xer Prozess im Tränen­sys­tem, und aktu­el­le Erkennt­nis­se deuten auf eine multi­fak­to­ri­el­le Ätio­lo­gie hin. Falls eine Anfäl­lig­keit vorliegt, kann das auslö­sen­de Ereig­nis eine Verlet­zung des Tränen­sack- oder Tränen­na­sen­gang-Epithels sein, welches zu einem Mikro­trau­ma mit Blut­aus­tritt führt. Die Blut­ge­rinn­sel fungie­ren als Nidus, also als Kern für die nach­fol­gen­de Abla­ge­rung von Muko­pep­tiden. Lokal vorhan­de­ne Zell­trüm­mer, von der Augen­ober­flä­che gewa­sche­ne Zell­res­te und Fremd­stof­fe aus der Tränen­flüs­sig­keit lagern sich in der Folge immer weiter an. Dieser Prozess wird durch eine verän­der­te Rheo­lo­gie und Zusam­men­set­zung des Tränen­films unter­stützt. Nach der Bildung von Dakryo­li­then bilden sich auf der Ober­flä­che soge­nann­te extra­zel­lu­lä­re Neutro­phi­len­fal­len, die dazu beitra­gen, dass sich die Dakryo­li­then nicht mehr auflö­sen. Ein inter­es­san­ter, multi­fak­to­ri­el­ler Prozess steht also hinter der Bildung dieses Krank­heits­bil­des, welches sich zumeist im Tränen­sack verbor­gen mani­fes­tiert, aber auch im Tränen­ka­nal zu einer an der Spalt­lam­pe sicht­ba­ren Patho­lo­gie führen kann.

Das Glau­kom als eine poten­zi­ell chro­nisch progres­si­ve Augen­er­kran­kung, die durch den fort­schrei­ten­den Verlust reti­na­ler Gangli­en­zel­len (RGC) verur­sacht wird, beschäf­tig­te in einer aktu­el­len Arbeit die Arbeits­grup­pe um Yi (Biochem Biophys Res Commun 2024;694:149414). Derzeit exis­tiert keine klinisch zuge­las­se­ne Behand­lung, welche die Über­le­bens­ra­te von RGC direkt verbes­sern kann. Das Apoli­po­pro­te­in E (APOE)-Gen steht in engem Zusam­men­hang mit dem gene­ti­schen Risiko zahl­rei­cher neuro­de­ge­ne­ra­ti­ver Erkran­kun­gen und ist in den vergan­ge­nen Jahren zu einem wich­ti­gen Thema auf dem Gebiet der Krank­heits­for­schung gewor­den, wobei die Patho­ge­ne­se dege­ne­ra­ti­ver Netz­haut­er­kran­kun­gen in engem Zusam­men­hang mit den Erkran­kun­gen des zentra­len Nerven­sys­tems steht. APOE besteht aus drei Alle­len –  ε4, ε3 und ε2 – auf einem einzi­gen Locus, bei einem unter­schied­li­chen Risiko für ein Glau­kom. APOE4 und die APOE-Gen-Dele­ti­on (APOE-/-) können den RGC-Verlust redu­zie­ren. Im Gegen­satz dazu führen APOE3 und das allge­mei­ne Vorhan­den­sein von APOE-Genen (APOE+/+) zu einem erheb­li­chen Verlust von RGC-Körpern und Axonen, was das Risiko des Zell­to­des von RGC erhöht. Bezüg­lich des APOE2 gibt es derzeit es noch keine eindeu­ti­gen Hinwei­se, die darauf schlie­ßen lassen, ob es für das Glau­kom nütz­lich oder schäd­lich ist. Die genann­te Studie fasst den Mecha­nis­mus verschie­de­ner APOE-Gene beim Glau­kom zusam­men und speku­liert, dass eine geziel­te APOE-Inter­ven­ti­on eine viel­ver­spre­chen­de Metho­de zum Schutz vor dem Verlust von RGCs beim Glau­kom sein könnte. Vermut­lich werden wir in der Zukunft dies­be­züg­lich zahl­rei­che neue thera­peu­ti­sche Ansät­ze für die Thera­pie sehen, welche die Trop­fen­be­hand­lung und chir­ur­gi­sche Thera­pie berei­chern werden. Bis zum klini­schen Einsatz liegt aber sicher noch viel Arbeit vor den Forschern.

Diese vier aktu­el­len Publi­ka­tio­nen auf unse­rem Fach­ge­biet zeigen erneut, wie umfang­reich die verschie­de­nen Forschungs­fel­der bezüg­lich unse­rer „klei­nen“ Augen­heil­kun­de sind. Für uns Ärzte ist es immer wich­tig, hier einen Über­blick zu behal­ten, obwohl es nahezu unmög­lich erscheint, in alle Teil­ge­bie­te bis ins Detail einzu­stei­gen. Wir hoffen, dass unsere Zusam­men­fas­sun­gen in Kompakt Ophthal­mo­lo­gie dabei eine gute Hilfe sein können. In diesem Sinne wünschen wir Ihnen viel Freude bei der Lektü­re und weiter einen guten Start in das Jahr 2024.

Ihr Detlef Holland

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