Stagnation: Kontraproduktiv für Forschung und Versorgung
Liebe Leserinnen und Leser,
Professor Pleyer überschrieb sein jüngstes Editorial mit „Neue Normalität!?“. Und ich finde es sehr gut, wie er über die Veränderungen in den Patientenströmen während des Lockdowns berichtet hat. Nur: Darf dies unsere „Neue Normalität“ werden? Wohl kaum. Für mich gehört der Begriff auf Platz eins für die Nominierung des Unwortes des Jahres 2020. Die zurzeit bestehende Situation ist keine Normalität, da sie ständig kurzfristig angepasst wird. Die Politik reagiert – sie plant nicht! Dies führt in vielen Bereichen unseres Lebens zu Stagnation! Verlangsamung von Entwicklung ist aber für die Menschheit kontraproduktiv, denn wir müssen uns in allen Bereichen weiterentwickeln, um die großen Fragen unserer Zeit beantworten zu können. Viele Universitäten können ihre klinischen Studien nicht mehr adäquat durchführen, da noch immer nicht die alte Normalität eingekehrt ist. 80% weniger Kataraktoperationen im ersten Halbjahr 2020 in Deutschland können auch nicht Ziel einer guten medizinischen Versorgung sein. In diesem Sinne wünsche ich uns allen, dass wir gemeinsam bald die Situation überstanden haben und uns wieder vollständig den relevanten, positiven Dingen unseres Berufslebens zuwenden können.
In diesem Sinne möchte ich auf einige spannende Veröffentlichungen hinweisen.
Chongyang She et al. berichten in einer Studie über die Diabetische Retinopathie (DR), dass eine unzureichende Aufnahme von Antioxidanzien in der Nahrung mit dem Beginn und der Progression einer DR assoziiert sein kann. Die Wissenschaftler aus Peking und Boston konnten in einer Querschnittsstudie mit 455 Probanden beobachten, dass die Aufnahme von Antioxidanzien über die Nahrung, insbesondere von Vitamin E und Selen, protektive Effekte auf eine DR hat. Dieser Zusammenhang ist zurzeit auch hochinteressant, da auch bei COVID-19 positive Effekte u. a. auf das Immunsystem durch Vitamin D und Spurenelemente wie Zink beobachtet werden.
Wie wichtig eine zügige Therapieeinleitung ist bzw. wie negativ sich Verzögerungen wie z. B. durch den Lockdown auswirken können, zeigte eine Studie aus Auckland (Neuseeland) über die Progression in der Wartezeit zwischen Diagnosestellung und Therapie. Bei 38 von insgesamt 96 Augen kam es in der durchschnittlichen Wartezeit von 153+/-101 Tagen zu einer Progression des Keratokonus. Es fanden sich signifikante Unterschiede in den präoperativen topographischen Parametern wie dem Oberflächenvariations-Index, der vertikalen Asymmetrie, dem Keratokonus-Index und dem Index der Höhen-Dezentrierung. Andere wichtige Parameter wie u. a. die Hornhautdicke zeigten aber keine Progression.
Und auch im Bereich des Glaukoms stimmt der Satz: Everything is connected! Marshall et al. aus Adelaide (Australien) konnten einen Zusammenhang zwischen Herz-Kreislauf Erkrankungen und einer Glaukom Progression im frühen Stadium nachweisen. In der prospektiven Kohortenstudie PROGRESSA an 1314 Patienten konnte ein Zusammenhang mit einer Erhöhung des Blutdrucks und einer Progression im SD-OCT der Humphrey-Gesichtsfeldanalyse nachgewiesen werden. Hypertonus und eine antihypertensive Therapie ließen sich als negative Faktoren nachweisen.
Unter dem Motto: „Keep it simple” möchte ich zum Abschluss meines Editorials auf eine Arbeit zu Intraokularlinsen von Vinciguerra R et al. aus Mailand (Italien) hinweisen. Im „Journal of Cataract & Refractive Surgery” berichten die Autoren über eine prospektive, vergleichende Studie an jeweils 30 Probanden. Ziel war es die Zufriedenheit und den binokularen Intermediärvisus zu vergleichen. Die eine Gruppe hatte eine Zielrefraktion von ‑0,5 dpt, die andere von Emmetropie. Der Intermediärvisus war in der zweiten Gruppe signifikant besser, ebenso der subjektive Nah- und Intermediärvisus sowie die Brillenfreiheit.
Die Arbeit zeigt, wie ohne hohen Kostenaufwand für den Patienten eine signifikante Verbesserung im Alltag erzielt werden kann. Wir sollten folglich bei jeder Kataraktoperation immer mit den Patienten ihre individuellen Bedürfnisse besprechen und nicht vergessen, dass eine kleine Kursänderung weg vom gewohnten Fahrwasser für den Patienten einen großen Gewinn mit sich bringen können.
In diesem Sinne wünscht Ihnen das ganze Team von Kompakt Ophtahlmologie einen goldenen Oktober.
Ihr Detlef Holland
P.S.: Das späte Erscheinen des Oktober-Editorials bitte ich aufgrund meine persönlichen Kursänderung in Richtung eines neuen augenärztlichen Hafens meinerseits mit meinem neuen Augenzentrum.ONE zu entschuldigen.