Nachhaltigkeit erobert die Augenheilkunde
Liebe Leserinnen und Leser von Kompakt Ophthalmologie,
im Jahr 1972 veröffentlichte der Club of Rome den Bericht über die Grenzen des Wachstums. Es handelte sich dabei um den ersten umfassenden wissenschaftlich fundierten Report zur Zukunft der Erde. Der Bericht basierte auf den Ergebnissen eines damals neuartigen Forschungsprojektes. Am Massachusetts Institute of Technology (MIT) wurden aufwendige Computersimulationen durchgeführt. Ziel war es, zu ermitteln, wie 5 entscheidende Faktoren die Entwicklung der Welt in der Zukunft beeinflussen werden: Dazu gehörten die Industrialisierung, das Bevölkerungswachstum, Mangelernährung, nicht erneuerbare Ressourcen sowie Umweltschäden. Die Forschung sollte herausfinden, welchen Einfluss exponenzielles Wachstum und die Wechselwirkungen der genannten Faktoren aufeinander haben.
Es wurde damals sehr schnell klar, dass die Menschheit ohne eine Veränderung der Wirtschaftsform relativ schnell – spätestens bis 2100 – auf eine Katastrophe zulaufen würde.
Das starke Bevölkerungswachstum, die versiegenden Rohstoffquellen und die mit der Ausbeutung verbundenen Umweltzerstörung würden nicht kompensiert werden können und folglich in eine globale Misere steuern. Der technische Fortschritt allein könnte eine solche Entwicklung nicht aufhalten, sondern sie nur herauszögern. Die Autoren betonten schon damals, dass eine positive Entwicklung aus einer Kombination von technischer Entwicklung und sozialen sowie politischen Veränderungen bestehen muss, um ein globales ökologisches und soziales Gleichgewicht zu erreichen. In dieser Zeit wurden auch Organisationen wie Greenpeace oder der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland gegründet. Seither wurden zahlreiche internationale Konferenzen zum Umwelt- und Klimaschutz durchgeführt, und man hat dennoch den Eindruck es sei nichts passiert. In vielen Bereichen mag dies zutreffend sein. Wir können aber heute feststellen, dass das Thema Umwelt mittlerweile in allen Bereichen der Gesellschaft angekommen ist. Gerade war ich auf der ESCRS in Mailand. Der Kongress stand erstmalig unter dem Motto der Nachhaltigkeit. Auch der bevorstehende Kongress der deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft wird ganz im Zeichen der Nachhaltigkeit stehen. In der Juli-Ausgabe der Zeitschrift „Die Ophthalmologie“ – ehemals „Der Ophthalmologe“ – wurde ebenfalls in drei Artikeln ausführlich über das Thema Nachhaltigkeit in der Augenheilkunde berichtet. Zum Ersten berichteten Roth et al. über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Augenheilkunde (Roth M et al. Aktuelle und zukünftige Auswirkungen des Klimawandels auf die Augenheilkunde. Ophthalmologie 2022;119(6):552–560.).
In den vergangenen 10 Jahren hat sich die Anzahl der Publikationen zu diesem Thema verzehnfacht. Hierbei ist zu bedenken, dass das Gesundheitswesen auch aktiv zum Klimawandel beiträgt, da es weltweit zu etwa 5% der globalen Treibhausgase beiträgt. Die Autoren gehen in ihrer Arbeit u.a. auf 3 schädigende Faktoren ein. Zum Einen sind lichtinduzierte, lufinduzierte sowie wasserinduzierte Schäden zu nennen. Eine vermehrte UV ‑Exposition führ zu einer steigenden Inzidenz des Pterygiums und auch des konjunktivalen Melanoms. Aber auch Plattenepithelkarzinome des Lides und auch lichtinduzierte Katarakt werden nach der Studienlage zunehmen. Bezüglich der Luft ist vor allem an das schädigende Ozon, Stickstoff- und Schwefeldioxid sowie Feinstaub zu denken. Diese führen vorwiegend zu entzündlichen Veränderungen der Augenoberfläche, zu Sicca-Syndrom und Wundheilungsstörungen. Studien legen im Bereich des Glaukoms einen negativen Einfluss insbesondere durch Feinstaub (PM2,5) nahe. Makuladegeneration scheint durch hohe Stickstoffmonoxid- und Kohlenstoffmonoxid-Dosen negativ beeinflusst zu werden.
Wirbelauer und Geerling beschäftigen sich in ihrem Artikel mit dem Thema Müll und Kataraktoperation (Wirbelauer C, Geerling G. Ressourceneinsatz in der Kataraktchirurgie – Mehr Müll geht (n)immer. Ophthalmologie 2022;119(6):561–566.). Die Ressourcenschonung im Bereich der Linsenoperation ist sicher global gesehen ein wichtiger Faktor, um die Nachhaltigkeit in der Augenheilkunde zu optimieren, bedenkt man alleine die Menge der durchgeführten Operationen. Alleine in Deutschland werden ca. 800.000 Operationen durchgeführt und in Indien bis zu 6 Millionen. Dabei entsteht eine ungeheure Menge an Müll, die durch die Hygienevorschriften und Einmalmaterialen immer weiter zunimmt. Nach einer Umfrage unter Ophthalmologen meinen 93% der Chirurgen, dass zu viel Müll bei einer Operation entsteht, und 78% wünschen sich, dass die Menge reduziert wird. Auch durch die Fahrten zu den Untersuchungen und der Operation entsteht ein erheblicher CO2-Fußabdruck. Wäre da nicht z.B. die Zunahme von bilateralen Operationen ein Beitrag, der einfach zu organisieren wäre und gleichzeitig einen großen Einfluss hätte? Aufgrund der Verbundmaterialen und dem großen Verpackungsaufwand wäre eine optimierte Mülltrennung im OP wünschenswert. Auch zeigen Studien, dass Einmalinstrumente keinen verbesserten Patientennutzen aufweisen und daher kritisch hinterfragt werden sollten.
Birtel et al. stellen sich der Frage, welche unterschiedlichen Strategien angewendet werden sollten, um die Auswirkungen der Augenheilkunde auf die Umwelt und das Klima zu reduzieren (Birtel J et al. Nachhaltigkeit in der Augenheilkunde: Adaptation an die Klimakrise und Mitigation. Ophthalmologie 2022;119(6):567–576.). Hier geht es u.a. auch nach der Weltgesundheitsorganisation WHO um die Frage der Adaptation und der Mitigation. Bei der Adaptation steht im Vordergrund, unvermeidbare Veränderungen zu erkennen und das Gesundheitssystem zum Wohle der Patienten daran anzupassen. Die Mitigation soll durch Verminderung von Treibhausemissionen, Verminderung von Müll und Ressourcenschonung die negativen Entwicklungen abschwächen. Im Gesundheitssystem sollten hierzu folgende Bereiche optimiert werden: Zunächst sollte der Energieverbrauch in Gebäuden verbessert werden. Digitale Anwendungen, Apps und Online-Patientenmonitoring können den negativen CO2-Fußabdruck verringern. Verbrauchsmaterialen sollten hinterfragt und z.B. durch Anwendung von Mehrwegtonometern anstelle von Einfachtonometern die Müllmenge reduziert werden. Im Bereich der Mobilität können Online-Visiten, Reduktion von nicht zwingend notwendigen Konsultationen oder der Verzicht auf Präsenz- zugunsten von Online-Fortbildungen einen positiven Effekt haben. Das National Health System NHS im Vereinigten Königreich hat bereits einen Klimaschutzplan im Gesundheitswesen vorgelegt, mit dem Ziel der Klimaneutralität. Hier kann sich Deutschland sicher anschließen.
Wie wir sehen, ist das eminent wichtige Thema des Umweltschutzes mittlerweile in allen gesellschaftlichen Bereichen angekommen. Es hat lange gedauert, aber die möglichen Veränderungen werden mit Sicherheit einen positiven und nachhaltigen Effekt für die zukünftigen Generationen aufzeigen.
Über eine andere mögliche Ressourcenüberlastung schreiben Lingham et al. Auch an dieser Stelle berichteten wir schon über die Zunahme der Myopie in der Gesellschaft. Die Forschergruppe analysierte anhand von vorliegenden Daten und mithilfe von Rechenmodellen, welche zusätzliche Belastung auf das Gesundheitssystem in Großbritannien und Irland zukommen würde, wenn alle jungen Menschen zwischen 6 und 21 Jahren bzgl. einer Myopieprogression behandelt würden. Erfreulicherweise kamen die Autoren zu dem Schluss, dass auch bei mehr als 2 Millionen möglichen Patienten die Myopiekontrolle nicht zu einer Überlastung des Systems führen würde, da die zusätzlichen Kontrollen außerhalb der Krankenhäuser nur 2,6% der zusätzlichen Kontrollen und im Krankenhaus nur 13,6% ausmachen würden. Weitere Work-Flow-Optimierungen könnten zur weiteren Reduktion des Aufwandes beitragen. Ebenfalls über positive Aspekte bei der Therapie junger Patienten berichten Achiron et al. in „Cornea“ in einer Literaturrecherche zur Behandlung des Keratokonus. In die Untersuchung wurden 37 Studien mit 2078 Augen nach einer CXL-Behandlung eingeschlossen. Als Therapieerfolg wurde eine Reduktion der Progression angesehen, wobei eine Progression als Zunahme von Kmax, Ksteil und Kmittel von mehr als 1 Dioptrie angesehen wurde. Mit einer Progressionsrate von nur 9,9% sahen die Autoren das Epithel-off-Crosslinking als sichere und effektive Behandlungsmethode des Keratokonus auch bei Kindern an.
Dass ganzheitliche Therapie auch in der Augenheilkunde sinnvoll erscheint, konnten Tavakoli et al. nachweisen. In einer Doppelblindstudie wurde der Effekt von Probiotika und Präbiotika auf das trockene Auge untersucht. Probiotika sind Mikroorganismen und Präbiotika Ballaststoffe, welche sich positiv auf das Darmmikrobiom – einem Regulator immunulogischer Prozesse – auswirken. Der OSDI, die nichtinvasive Tränenaufrisszeit und der Tränenmeniskus wurden analysiert, und es konnte gezeigt werden, dass die Placebogruppe über den Untersuchungszeitraum von 4 Monaten schlechtere Parameter aufwies als die behandelte Gruppe. Aufklärung über eine gesunde Lebensweise und auch eine Therapie zur Verbesserung der Darmflora sollte also auch in unsere Sicca-Sprechstunde Einzug finden.
Hier zeigt sich erneut, dass wir heute nicht eingleisig denken können, sondern immer den Blick auch auf das große Ganze richten müssen, um nicht nur unsere Patienten optimal zu versorgen, sondern auch global langfristig bestehen zu können. Die Forschung wird hierzu einen großen Beitrag leisten können, und wir als aufgeklärte Menschen gehen mit gutem Beispiel durch z.B. Ressourcenschonung in der Augenheilkunde voran.
Mit diesem positiven Ausblick verabschiede ich mich und wünsche allen Leserinnen und Lesern einen wunderbaren Herbst.
Ihr Detlef Holland