Humane Medizin im Einklang mit modernen Technologien
Gerade aus Moskau vom Kongress der Fjodorow Klinik zurückgekehrt, sitze ich am Rechner und beginne mit der Arbeit am Editorial. Im Kopf sind noch viele Eindrücke von dieser geschichtsträchtigen Stadt, welche eine unglaublich schnelle innovative Entwicklung durchmacht. Auch sind die Gedanken bei der Vergangenheit der Fjodorow Klinik, welche schon früh Vorreiter auf vielen Gebieten der Augenheilkunde war. Alle Augenärzte haben dabei natürlich auch die runden Op-Tische vor Augen, an welchen jeder Operateur immer nur einen Teilschritt der Operation gemacht hat. Dies war damals ein neuer innovativer Ansatz, welcher sich bekanntermaßen nicht durchgesetzt hat. Heute stehen wir aber am Anfang einer neuen Entwicklungsstufe der Menschheit, welche sicher auch einen weitreichenden Einfluss auf die Medizin haben wird und nicht aufzuhalten ist. Das Zeitalter der künstlichen Intelligenz. Dazu aber später mehr.
Bei der Lektüre der Artikel aus „Kompakt Ophthalmologie“ fielen mir insbesondere die diagnostischen Paper auf. Die Augenheilkunde hat sich wie kaum ein anderes Fach rasant in Hinblick auf die Möglichkeiten der Bildgebenden Verfahren entwickelt. Hierbei ist auch die schnelle Analyse der gesammelten Informationen immer komplexer und besser geworden.
Patel et al. aus Ann Arbor konnten in einer im „Graefe’s Archive“ veröffentlichen Arbeit zeigen, dass ein einfaches Smartphone-basiertes Screening der komplexen Frühgeborenenretinopathie heute berührungsfrei möglich ist. Dabei kam das RetinaScope zum Einsatz, womit digitale Netzhautfotos von Frühgeborenen in guter Bildqualität zur Einstufung einer Plus-Symptomatik aufgenommen werden, so das Ergebnis ihrer Untersuchung. Die Bilder wurden anschließend von geschulten Ärzten beurteilt und die Stadieneinteilung vorgenommen.
Shang et al. veröffentlichten in „Eye“ ihre Untersuchungen mittels OCT über die peripapilläre Beta- und Gamma-Zone. Diese Zonen können bei physiologischen und glaukomatösen Veränderungen um den Sehnervenkopf eine unterschiedliche Rolle spielen, so das Ergebnis der chinesischen Untersuchung. Bei vorwiegend nicht kurzsichtigen Probanden mit oder ohne chronischem primären Winkelblockglaukom korrelierte eine größere peripapilläre Beta-Zone mit dem Alter und dem Vorhandensein eines Glaukoms. Eine größere peripapilläre Gamma-Zone hingegen korrelierte mit einer Ovalität der Sehnervpapille, jedoch nicht mit einem Glaukom.
Li et al. aus Shanghai publizierten im „EPMA Journal“ über das das primäre Winkelblockglaukom. Dabei wurden mehrere Augenfaktoren identifiziert wie zum Beispiel eine kleine Hornhaut, ein erhöhter Augeninnendruck, eine flache Vorderkammer und eine kurze Achsenlänge. Der Schweregrad eines PWBG korrelierte in der Art, dass die AL positiv und signifikant mit dem Schweregrad der PWBG bei weiblichen, nicht jedoch bei männlichen Probanden assoziiert war. Dieser Befund bezieht sich auf die PWBG-Pathogenese und legt die Verwendung der AL-Bewertung bei der Überwachung, Diagnose und Progression von Glaukomen nahe, woraus sich neue Strategien für ein präventives Vorgehen ergeben könnten. Auch bei dieser Untersuchung spielt die einfache und schnelle Diagnostik in der Augenheilkunde wie zum Beispiel die Ermittlung der Achsenlänge durch die Biometrie eine entscheidende Rolle.
Eine Arbeitsgruppe aus Bydgoscz um Zabel et al. untersuchte mittels OCT-Angiographie Alzheimer-Patienten und eine Gruppe mit primärem Offenwinkelglaukom, da beide Erkrankungen neurodegenerativ sind und mit einer Apoptose von Nervenzellen und einer Beeinträchtigung der Mikrovaskulatur verbunden sind. Dabei wurden die retinalen Mikrogefäße innerhalb der Makula und des Sehnervenkopfes bei Patienten mit den beiden Erkrankungen mit einer gesunden Kontrollgruppe verglichen. Obwohl bei beiden Erkrankungen Abnormalitäten des gesamten retinalen Gefäßsystems vorliegen, betrifft die signifikante Beeinträchtigung der Mikrozirkulation bei POWG-Patienten oberflächliche Gefäße, während sie bei Alzheimer-Patienten Gefäße betrifft, die sich in den tieferen Netzhautschichten befinden, so das Ergebnis der Untersuchung.
Was haben diese interessanten und wegweisenden Untersuchungen gemeinsam? Alle vier Studien analysierten Ergebnisse, welche mit delegierbarer, moderner augenärztlicher Diagnostik ermittelt wurden.
Hier schlagen wir nun wieder den Bogen zurück zur künstlichen Intelligenz. Ich glaube, dass die Zukunft der Augenheilkunde in weiten Bereichen delegierbar werden wird. Stellen wir uns vor: Ein Patient betritt die Praxis und wird von einem Angestellten ohne Arztkontakt vor einige Geräte gesetzt und alle relevanten Daten werden erhoben. In kurzer Zeit kann schon heute eine große Menge von Informationen über Visus, Refraktion, Tonometrie, Pachymetrie, Topographie aber auch über die Netzhaut mittels Fundusfotographie und OCT beziehungsweise OCT-Angiographie gewonnen werden. Auch das Ausmaß der Katarakt wird zum Beispiel leicht über Scheimpfluganalyse ermittelt und kann gemeinsam mit allen Daten an Rechenzentren übermittelt werden.
Diese Zentren könnten schon bald in der Lage sein, durch Analyse der gesammelten Daten in Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz weitreichende Informationen über den Gesundheitszustand des Auges, aber auch im Hinblick auf Erkrankungen wie zum Beispiel Alzheimer ergeben. Die Daten könnten direkt mit Studienergebnissen verglichen und relevante individualisierte Schlüsse für den Patienten gezogen werden. Der Patient würde im Anschluss möglicherweise direkt seine sämtlichen Diagnosen mitsamt eines Therapieplans beziehungsweise mit Empfehlungen für einen Präventionsplan nach Hause gehen.
Natürlich können wir dem entgegenhalten, dass der erfahrene Arzt mit geschultem Auge heute auch in der Lage ist, die genannten Informationen zu analysieren und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Wenn wir aber ehrlich mit uns sind, so werden wir zu dem Schluss kommen, dass wir eben nicht diese Vielfalt von Informationen in so kurzer Zeit verarbeiten können. Wie sollen wir zum Beispiel die unterschiedlichen Zonen Beta und Gamma in Sekunden analysieren, die unterschiedlichen Gefäßplexus der Netzhaut vergleichen oder die Achsenlänge und das Geschlecht direkt mit dem Engwinkelglaukomrisiko korrelieren.
Der Arzt wird in der Zukunft durch seine Ausbildung und Erfahrung wohl eher die letzte Instanz sein, welche die Ergebnisse, die sich aus der Datenflut ergeben, für den Patienten kontrolliert und dann gemeinsam mit diesem bespricht. Es bleibt dabei zu wünschen, dass die menschliche Komponente nie verloren geht! Wir Ärzte werden die technische Entwicklung und auch den Einfluss der künstlichen Intelligenz nicht aufhalten können. In unserer Hand liegt es aber, im Einklang mit diesen modernen Technologien eine humane Medizin zu bewahren.
Dabei wird auch immer unser eigener Wissenstand von größter Bedeutung sein. Denn nur mit höchstem Ausbildungsstand werden wir uns als Ärzte im Rahmen der beschriebenen Entwicklung behaupten können. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen weiter viel Freude bei der Lektüre von „Kompakt Ophthalmologie“.
Ihr Dr. Detlef Holland