Großer epide­mio­lo­gi­scher Druck: Neues zur Myopie

 

Dr. Detlef Holland, Heraus­ge­ber „Surgi­cal“ © Nord­blick GmbH

Sehr geehr­te Lese­rin­nen und Leser von Kompakt Ophthalmologie,

glück­li­cher­wei­se stehen die Zeichen zurzeit posi­tiv in Hinblick auf ein baldi­ges Ende der Pande­mie und die Rück­kehr zu einem norma­len Leben. Mehr denn je hat diese Zeit uns gezeigt, wie wich­tig Präven­ti­on und früh­zei­ti­ge Behand­lung sind. Mit diesen beiden Schlag­wör­tern möchte ich den Focus auf eine andere „Epide­mie“ rich­ten, welche uns als Augen­ärz­te in den nächs­ten Jahr­zehn­ten sehr beschäf­ti­gen wird – die Myopie.

Es wird ange­nom­men, dass die Inzi­denz der Myopie im Jahr 2050 bei 50% der Welt­be­völ­ke­rung liegen wird. Zurzeit liegt der Anteil von Myopen in Teilen Asiens aber auch schon bei 70–80%. Damit wird die Kurz­sich­tig­keit zu einem zuneh­men­den globa­len gesund­heit­li­chen und sozio­öko­no­mi­schen Problem. Die Ursa­chen für die Zunah­me der Myopie, welche aus gene­ti­schen und Umwelt­fak­to­ren bestehen, sind noch nicht voll­stän­dig verstan­den. Glück­li­cher­wei­se zeigen sich aber immer mehr erfolg­rei­che Ansät­ze in der Myopie­be­hand­lung insbe­son­de­re von Kindern.

Betrach­ten wir neben dem bekann­ten progres­si­ons­för­dern­den Faktor der vermehr­ten Nahar­beit weite­re asso­zi­ier­te Para­me­ter, so konnte eine Studie von Harb et al. zeigen, dass eine Asso­zia­ti­on von Body-Mass-Index, Blutglu­ko­se und erhöh­tem Insu­lin­spie­gel sowie dem Vitamin-D-Spie­gel und der Myopie besteht. Für ihre Studie wurden Daten von mehr als 6500 Ameri­ka­nern unter­schied­li­cher Ethni­en im Alter von 12 bis 25 Jahren analy­siert. Resü­mie­rend folgern die Autoren, dass es zahl­rei­che Einflüs­se gibt, welche zur Entste­hung der Kurz­sich­tig­keit beitra­gen und noch durch weite­re Studi­en unter­mau­ert werden müssen. Daraus könn­ten dann weite­re Schlüs­se für die Präven­ti­on folgern.

Welche Bedeu­tung das frühe Scree­ning von Kindern hat, konnte auch die aktu­el­le Studie von Lanca et al. zeigen. Ihre Arbeit verdeut­licht auch, wie aufwän­dig Studi­en in diesem Bereich sind, da über einen sehr langen Zeit­raum hinweg konse­quent unter­sucht werden muss. Hier waren es im Mittel fast 7 Jahre. Ein wich­ti­ger objek­ti­ver Para­me­ter ist neben dem Sphä­ri­schen Äqui­va­lent die axiale Länge des Bulbus. Die Autoren konn­ten zeigen, wie sehr eine schnel­le Zunah­me der Myopie in der Kind­heit mit einer hohen Myopie im Teen­ager­al­ter verbun­den ist. In den multi­va­ri­an­ten Regres­si­ons­ana­ly­sen wurde gezeigt, dass jeder Anstieg der 3‑Jah­res-SE-Progres­si­on um ‑0,3 D/Jahr sowie jeder Anstieg der 3‑Jah­res-Längen­pro­gres­si­on um 0,2 mm/Jahr mit einem ‑1.14 größe­ren Teen­ager-SE sowie mit einem ‑0,52 mm größe­ren Teen­ager-AL verbun­den war. Diese Kombi­na­ti­on von Scree­ning-Ergeb­nis­sen könnte also dazu dienen, früh­zei­tig eine Thera­pie einzu­lei­ten und so die Myopie­ent­wick­lung abzuschwächen.

Die bekann­tes­te und auch gleich­zei­tig eine der effek­tivs­ten konser­va­ti­ven Thera­pie­for­men ist sicher­lich die früh­zei­ti­ge Gabe von Atro­pin­trop­fen. Die Progres­si­on kann damit um bis zu 0,6 dpt pro Jahr verrin­gert werden. Bereits im Febru­ar berich­te­ten wir in Kompakt Ophthal­mo­lo­gie über Teil­ergeb­nis­se der LAMP-Studie. Der Name steht für Low-concen­tra­ti­on Atro­pi­ne for Myopia progres­si­on. Dabei wurde Atro­pin in Dosie­run­gen von 0,05%, 0,025% und 0,01% 1‑mal am Tag beid­seits appli­ziert. 350 Kinder wurden hier­bei in 4 Grup­pen rando­mi­siert. Li et al. konn­ten zeigen, dass die Atro­pinthe­ra­pie einen posi­ti­ven Einfluss auf die Progres­si­on hat,  jünge­re Kinder aber eine höhere Dosie­rung brau­chen als ältere, um den glei­chen Effekt zu erzie­len. Da diese Thera­pie­form aber sehr stark an die Compli­an­ce gebun­den ist, welche bei Kindern häufig proble­ma­tisch sein kann, und außer­dem Neben­ef­fek­te wie Licht­emp­find­lich­keit und verschwom­me­nes Nahse­hen auftre­ten können, findet Atro­pin immer noch keine weite Verbrei­tung. Andere opti­sche Behand­lungs­op­tio­nen sind hier daher im Vorteil. Hier­bei wurden in der Vergan­gen­heit verschie­de­ne Ansät­ze verfolgt. Dabei wurden multi­fo­ka­le und bifo­ka­le Bril­len, multi­fo­ka­le Kontakt­lin­sen aber auch Ortho­ke­ra­to­lo­gie­lin­sen mit Erfolg einge­setzt. Der tier­ex­pe­ri­men­tel­le Ansatz hinter diesen Stra­te­gien ist der posi­ti­ve Nach­weis eines myopen Defo­kus auf die Myopie­ent­wick­lung und eines hyper­open Defo­kus vice versa bei unter­schied­li­chen Tieren. Mit dem myopen Defo­kus ist gemeint, dass in der Netz­haut­pe­ri­phe­rie der Fokus vor der Netz­haut liegt, beim hyper­open Defo­kus umgekehrt.

Eine Vergleichs­stu­die zwischen medi­ka­men­tö­ser und opti­scher Thera­pie führ­ten z.B. Hao et al. durch und publi­zier­ten diese im Mai 2021 in „Inter­na­tio­nal Ophthal­mo­lo­gy“.  Beide Ansät­ze, Atro­pin und Ortho­ke­ra­to­lo­gie, zeig­ten eine Verlang­sa­mung der Myopie­pro­gres­si­on. Zusätz­lich konnte darge­legt werden, dass die Myopie­ent­wick­lung auch einen Effekt auf die subfovea­le Ader­haut­di­cke hat. Eine gerin­ge­re Myopie­zu­nah­me ist mit einer größe­ren Verdi­ckung der Ader­haut korre­liert. Mögli­cher­wei­se sehen wir hier auch einen weite­ren posi­ti­ven Ansatz für die Präven­ti­on der patho­lo­gi­schen Ausdün­nung am hinte­ren Pol mit seinen mögli­chen nega­ti­ven Folgen wie der CNV?

Einen inter­es­san­ten neue­ren opti­schen Thera­pie­an­satz stel­len soge­nann­te DIMS-Bril­len­glä­ser dar. Dieser Termi­nus steht für „Defo­cus Inte­gra­ted Multi­ple Segments“. Unter dem Namen „Myos­mart“ werden diese Gläser von der Firma Hoya vertrie­ben. Die inno­va­ti­ve Optik basiert auf einer Korrek­tur der Kurz­sich­tig­keit im Zentrum, um das winzi­ge Linsen­seg­men­te mit einer Brech­kraft von +3,5 dpt ange­ord­net sind. In Studi­en konnte ein 60%iger Effekt auf die Myopie­pro­gres­si­on nach­ge­wie­sen werden (Lam CSY et al. Defo­cus Incor­po­ra­ted Multi­ple Segments (DIMS) specta­cle lenses slow myopia progres­si­on: a 2‑year rando­mi­sed clini­cal trial. Br J Ophthal­mol 2020;104(3):363–368). Lam et al. konn­ten an 160 myopen Kindern den posi­ti­ven Effekt des tägli­chen Tragens auf das Längen­wachs­tum und die Myopie in einem Nach­un­ter­su­chungs­in­ter­vall von 2 Jahren nachweisen.

Die Gläser können in jede norma­le Kinder­bril­le ange­passt werden, worin ein großer Vorteil liegt. Neben­wir­kun­gen wurden bisher nicht beob­ach­tet. Vorwie­gend in Asien wurden bereits über 500.000 verschrieben.

Die Zukunft wird zeigen wie weit sich diese oder andere Tech­no­lo­gien durch­set­zen werden. Sicher­lich besteht hier­für ein großes Poten­zi­al insbe­son­de­re auch aufgrund des großen Drucks, der epide­mio­lo­gisch durch die anstei­gen­de Zahl der Myopie­fäl­le besteht. Eine inten­si­ve Ausein­an­der­set­zung mit diesen Thera­pien macht auf jeden Fall Sinn und wird meiner Ansicht nach auch immer mehr in unsere alltäg­li­che Routi­ne Eingang finden.

In diesem Sinn verab­schie­de ich mich und wünsche Ihnen aus Kiel einen gesun­den Start in den Sommer.

Mit besten Grüßen, 
Ihr Detlef Holland

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