Großer epidemiologischer Druck: Neues zur Myopie

Sehr geehrte Leserinnen und Leser von Kompakt Ophthalmologie,
glücklicherweise stehen die Zeichen zurzeit positiv in Hinblick auf ein baldiges Ende der Pandemie und die Rückkehr zu einem normalen Leben. Mehr denn je hat diese Zeit uns gezeigt, wie wichtig Prävention und frühzeitige Behandlung sind. Mit diesen beiden Schlagwörtern möchte ich den Focus auf eine andere „Epidemie“ richten, welche uns als Augenärzte in den nächsten Jahrzehnten sehr beschäftigen wird – die Myopie.
Es wird angenommen, dass die Inzidenz der Myopie im Jahr 2050 bei 50% der Weltbevölkerung liegen wird. Zurzeit liegt der Anteil von Myopen in Teilen Asiens aber auch schon bei 70–80%. Damit wird die Kurzsichtigkeit zu einem zunehmenden globalen gesundheitlichen und sozioökonomischen Problem. Die Ursachen für die Zunahme der Myopie, welche aus genetischen und Umweltfaktoren bestehen, sind noch nicht vollständig verstanden. Glücklicherweise zeigen sich aber immer mehr erfolgreiche Ansätze in der Myopiebehandlung insbesondere von Kindern.
Betrachten wir neben dem bekannten progressionsfördernden Faktor der vermehrten Naharbeit weitere assoziierte Parameter, so konnte eine Studie von Harb et al. zeigen, dass eine Assoziation von Body-Mass-Index, Blutglukose und erhöhtem Insulinspiegel sowie dem Vitamin-D-Spiegel und der Myopie besteht. Für ihre Studie wurden Daten von mehr als 6500 Amerikanern unterschiedlicher Ethnien im Alter von 12 bis 25 Jahren analysiert. Resümierend folgern die Autoren, dass es zahlreiche Einflüsse gibt, welche zur Entstehung der Kurzsichtigkeit beitragen und noch durch weitere Studien untermauert werden müssen. Daraus könnten dann weitere Schlüsse für die Prävention folgern.
Welche Bedeutung das frühe Screening von Kindern hat, konnte auch die aktuelle Studie von Lanca et al. zeigen. Ihre Arbeit verdeutlicht auch, wie aufwändig Studien in diesem Bereich sind, da über einen sehr langen Zeitraum hinweg konsequent untersucht werden muss. Hier waren es im Mittel fast 7 Jahre. Ein wichtiger objektiver Parameter ist neben dem Sphärischen Äquivalent die axiale Länge des Bulbus. Die Autoren konnten zeigen, wie sehr eine schnelle Zunahme der Myopie in der Kindheit mit einer hohen Myopie im Teenageralter verbunden ist. In den multivarianten Regressionsanalysen wurde gezeigt, dass jeder Anstieg der 3‑Jahres-SE-Progression um ‑0,3 D/Jahr sowie jeder Anstieg der 3‑Jahres-Längenprogression um 0,2 mm/Jahr mit einem ‑1.14 größeren Teenager-SE sowie mit einem ‑0,52 mm größeren Teenager-AL verbunden war. Diese Kombination von Screening-Ergebnissen könnte also dazu dienen, frühzeitig eine Therapie einzuleiten und so die Myopieentwicklung abzuschwächen.
Die bekannteste und auch gleichzeitig eine der effektivsten konservativen Therapieformen ist sicherlich die frühzeitige Gabe von Atropintropfen. Die Progression kann damit um bis zu 0,6 dpt pro Jahr verringert werden. Bereits im Februar berichteten wir in Kompakt Ophthalmologie über Teilergebnisse der LAMP-Studie. Der Name steht für Low-concentration Atropine for Myopia progression. Dabei wurde Atropin in Dosierungen von 0,05%, 0,025% und 0,01% 1‑mal am Tag beidseits appliziert. 350 Kinder wurden hierbei in 4 Gruppen randomisiert. Li et al. konnten zeigen, dass die Atropintherapie einen positiven Einfluss auf die Progression hat, jüngere Kinder aber eine höhere Dosierung brauchen als ältere, um den gleichen Effekt zu erzielen. Da diese Therapieform aber sehr stark an die Compliance gebunden ist, welche bei Kindern häufig problematisch sein kann, und außerdem Nebeneffekte wie Lichtempfindlichkeit und verschwommenes Nahsehen auftreten können, findet Atropin immer noch keine weite Verbreitung. Andere optische Behandlungsoptionen sind hier daher im Vorteil. Hierbei wurden in der Vergangenheit verschiedene Ansätze verfolgt. Dabei wurden multifokale und bifokale Brillen, multifokale Kontaktlinsen aber auch Orthokeratologielinsen mit Erfolg eingesetzt. Der tierexperimentelle Ansatz hinter diesen Strategien ist der positive Nachweis eines myopen Defokus auf die Myopieentwicklung und eines hyperopen Defokus vice versa bei unterschiedlichen Tieren. Mit dem myopen Defokus ist gemeint, dass in der Netzhautperipherie der Fokus vor der Netzhaut liegt, beim hyperopen Defokus umgekehrt.
Eine Vergleichsstudie zwischen medikamentöser und optischer Therapie führten z.B. Hao et al. durch und publizierten diese im Mai 2021 in „International Ophthalmology“. Beide Ansätze, Atropin und Orthokeratologie, zeigten eine Verlangsamung der Myopieprogression. Zusätzlich konnte dargelegt werden, dass die Myopieentwicklung auch einen Effekt auf die subfoveale Aderhautdicke hat. Eine geringere Myopiezunahme ist mit einer größeren Verdickung der Aderhaut korreliert. Möglicherweise sehen wir hier auch einen weiteren positiven Ansatz für die Prävention der pathologischen Ausdünnung am hinteren Pol mit seinen möglichen negativen Folgen wie der CNV?
Einen interessanten neueren optischen Therapieansatz stellen sogenannte DIMS-Brillengläser dar. Dieser Terminus steht für „Defocus Integrated Multiple Segments“. Unter dem Namen „Myosmart“ werden diese Gläser von der Firma Hoya vertrieben. Die innovative Optik basiert auf einer Korrektur der Kurzsichtigkeit im Zentrum, um das winzige Linsensegmente mit einer Brechkraft von +3,5 dpt angeordnet sind. In Studien konnte ein 60%iger Effekt auf die Myopieprogression nachgewiesen werden (Lam CSY et al. Defocus Incorporated Multiple Segments (DIMS) spectacle lenses slow myopia progression: a 2‑year randomised clinical trial. Br J Ophthalmol 2020;104(3):363–368). Lam et al. konnten an 160 myopen Kindern den positiven Effekt des täglichen Tragens auf das Längenwachstum und die Myopie in einem Nachuntersuchungsintervall von 2 Jahren nachweisen.
Die Gläser können in jede normale Kinderbrille angepasst werden, worin ein großer Vorteil liegt. Nebenwirkungen wurden bisher nicht beobachtet. Vorwiegend in Asien wurden bereits über 500.000 verschrieben.
Die Zukunft wird zeigen wie weit sich diese oder andere Technologien durchsetzen werden. Sicherlich besteht hierfür ein großes Potenzial insbesondere auch aufgrund des großen Drucks, der epidemiologisch durch die ansteigende Zahl der Myopiefälle besteht. Eine intensive Auseinandersetzung mit diesen Therapien macht auf jeden Fall Sinn und wird meiner Ansicht nach auch immer mehr in unsere alltägliche Routine Eingang finden.
In diesem Sinn verabschiede ich mich und wünsche Ihnen aus Kiel einen gesunden Start in den Sommer.
Mit besten Grüßen,
Ihr Detlef Holland