Demenz und Augenheilkunde – eine besondere Symbiose
Liebe Leserinnen und Leser von Kompakt Ophthalmologie,
die Zeit rast nur so dahin, und wir haben nun mittlerweile schon sechs Monate Krieg in Europa. Langsam tritt bei uns Menschen ein Gewöhnungsfaktor ein, und wir lernen, mit der Situation zu leben. Auch in den Medien bleibt sogar schon wieder Zeit für ein „Sommertheater“ um belanglose Dinge wie Party-Songs, obwohl in den Deutsch-Rap Charts ständig viel kritikwürdigere Texten gespielt werden, die Millionen hören. Zum Glück gibt es in der Wissenschaft und der Medizin ständig interessante Neuerungen, und wir müssen uns dem Mainstream nicht anschließen.
Vor Kurzem bin ich auf einen Artikel zum Thema Katarakt und Demenz gestoßen, der mir persönlich für uns Augenärzte als sehr wichtig erschien. Auch wenn die Arbeit bereits im Dezember 2021 publiziert wurde, ist sie aufgrund unserer Altersentwicklung in Deutschland und global für uns immer aktuell und sollte unser zukünftiges Handeln beeinflussen.
Die Demenzerkrankung betrifft bereits 50 Millionen Menschen weltweit, und Deutschland ist aufgrund der Altersentwicklung überproportional davon betroffen. Bisher gibt es keine Therapie mit kurativem Ansatz, und so ist es umso wichtiger, Faktoren zu detektieren, welche eine Entwicklung hin zur Demenz beeinflussen könnten. Hierzu hat sich auch ein Report in „The Lancet“ ausdrücklich geäußert (Livingston G et al. Dementia prevention, intervention, and care: 2020 report of the Lancet Commission. Lancet 2020;396(10248):413–446).
Es ist davon auszugehen, dass ein Verlust an sensorischer Qualität – sei es z.B. visueller oder akustischer Art – zur Entwicklung von Demenz im Alter beiträgt. Deshalb ist es bedeutend, ob z.B. eine Verbesserung der visuellen Qualität langfristig einen positiven Einfluss auf diese Erkrankung haben kann. Die Sehschärfenreduktion kann zur Verminderung von psychosozialer Aktivität, Verminderung von sozialen Interaktionen sowie zur Reduktion von geistiger und sportlicher Aktivität insgesamt führen, was alles mit geistigem Abbau verbunden ist. Die Autoren berichten über eine prospektive Kohortenstudie deren Ausgangspunkt 1994 und der Endpunkt 2018 war. In die Studie konnten 3038 Individuen mit einem Durchschnittsalter von 74 Jahren eingeschlossen werden. Vor dem Einschluss der Probanden, welcher zwischen 1994 und 1996 stattfand, wurde die mentale Gesundheit mit verschiedenen Tests festgestellt. Zweimal im Jahr wurde die Hirnleistung mittels des Cognitive Abilities Screening Instrument (CASI) untersucht. Zusätzlich führte man körperliche und neurologische Untersuchungen sowie neurophsychiologische Tests durch.
Insgesamt konnte nach der Analyse von 23554 Patienten-Lebensjahren nachgewiesen werden, dass die Gruppe, welche sich einer Kataraktoperation unterzogen hatte, ein signifikant geringeres Risiko für die Entwicklung einer Demenz aufwies (Hazard Ratio 0,71; 95%-Konfidenzintervall 0,62–0,83; p<0,001) Interessanterweise konnte auch gezeigt werden, dass Glaukomoperationen, welche nicht die Sehschärfe verbessern, keinen Einfluss auf die Entwicklung einer Demenz haben. Möglicherweise reduziert ein durch Katarakt bedingter Visusverlust den neuronalen Input und führt dadurch zu einer kortikalen Atrophie. Andererseits führt die Linsenextraktion zu einer Verbesserung der einfallenden Lichtmenge und Lichtqualität, was wiederum einen Einfluss auf die photorezeptiven retinalen Ganlionzellen hat. Diese beeinflussen die kognitiven Fähigkeiten, den Tag-Nacht-Rhythmus und die altersbedingte Demenz. Die Studie zeigt also spannende Ergebnisse und sollte uns als Augenärzte auch in Hinblick auf die alternde Bevölkerung und die Zunahme der Demenz bei unserer Indikationsstellung zur Kataraktoperation positiv beeinflussen.
Auch im Bereich der Altersbedingten Makuladegeneration, welche mittlerweile die weltweit häufigste Ursache für einen Visusverlust darstellt und von der 170 Millionen betroffen sind, gibt es viele spannende Entwicklungen. Insbesondere die Forschung bezüglich relevanter genetischer Risikofaktoren ist ein spannendes Forschungsfeld. Zhang et. al. haben hierzu eine interessante Arbeit veröffentlicht.
Dabei ist es von besonderem Interesse, Patienten bzw. Risikofaktoren zu detektieren, für die ein erhöhtes Risiko für einen Übergang von einer frühen oder intermediären Form der AMD in eine progressive Form besteht. Außerdem ist auch zunehmend die Therapie der atrophischen AMD von wissenschaftlichem Interesse. Anti C3- und Anti C5-Agenzien haben in Phase-III-Studien erstmals einen positiven Effekt auf das Voranschreiten der Atrophie zeigen können. Auch wurde unter der Therapie mit den Medikamenten ein geringeres Auftreten einer feuchten Makuladegeneration nachgewiesen. Hervorzuheben bei der Pathogenese der AMD sind auch die sogenannten Non-coding RNAs, welche nicht für die Codierung eines Protein stehen. Ca. 99 Prozent des menschlichen Genoms stehen nicht für die Transkribierung von Proteinen und spielen so sicherlich eine bedeutende regulatorische Funktion. Die Enzyklopädie der DNA-Elemente (ENCODE) konnte zeigen, dass die Non-coding RNAs eine wichtige Funktion bei verschiedenen Fehlfunktionen beim Primaten spielen. Diese RNAs stellen somit einen relativ wenig erforschten Pool an Biomarkern dar, die auch im Bereich der AMD von großer Bedeutung sein können. Möglicherweise werden diese ncRNAs auch in Zukunft zusätzlich Ziel therapeutischer Ansätze werden. Dem interessierten Leser sei daher dieser Review besonders ans Herz gelegt.
Das Trockene Auge ist nach wie vor bedauerlicherweise eine der am schlechtesten diagnostizierten und folglich auch am stärksten unterbehandelten Erkrankungen im Bereich der Augenheilkunde. Daher ist es umso wichtiger, moderne Technologien auszuschöpfen, um diesen Zustand zu verbessern. Daher ist die Nutzung von Artifizieller Intelligenz (AI) auch hier in der Zukunft nicht mehr wegzudenken. In einem interessanten Review befassen sich Storas et. al. mit den möglichen positiven Effekten der AI auf das Sicca Syndrom. Auch wenn der Terminus AI heute häufig im medizinischen Bereich angewendet wird, so findet hier zumeist der Subtyp des Maschinellen Lernens Anwendung. Mit dessen Hilfe sollen medizinische Befunde automatisch objektiver klassifiziert und auch medizinische Verläufe besser vorhergesagt werden können. Dadurch sollen auch Feinheiten in der Bildgebung der Patienten für eine bessere Einordnung der Krankheit nutzbar gemacht werden. Im Bereich des Trockenen Auges findet AI zumeist bei der Bewertung von Interferometrie, Spaltlampenbildern und Meibomdrüsen-Analyse Anwendung. Hier gibt es also noch zahlreiche Entwicklungsmöglichkeiten, welche zum Nutzen unserer Patienten und zur Verbesserung unserer Therapie Einsatz finden werden. Hier wäre unter anderem auch an den Lidschlag, die Lidstellung oder die Analyse von Alltagsgewohnheiten wie PC-Nutzung etc. zu denken.
Abschließend möchte ich noch einmal den Fokus auf das Thema COVID-19 lenken, welches uns glücklicherweise immer weniger in unserem Alltag beeinflusst. Dennoch hat die Vergangenheit viele neue Informationen über die Erkrankung und die damit verbundenen Impfungen mit neuartigen Wirkstoffen mit sich gebracht. Im klinischen Alltag habe ich z.B. gehäuft Uveitiden und Herpes-Reaktivierungen nach Impfungen gesehen, weshalb mich das Thema interessiert hat. In der Zeitschrift „Vaccines“ ist diesbezüglich ein interessanter Übersichtsartikel für das augenärztliche Fachgebiet publiziert worden.
Eine bedeutende Komponente der sinnvollen Anwendung einer Impfung ist laut den Autoren das Verständnis nicht nur der Wirkung, sondern auch der möglichen Nebeneffekte. Es wurden für den Review 58 Artikel untersucht und die Berichte für jeden anatomischen und neuroanatomischen Bereich gesondert beschrieben. Insgesamt konnten nur 94 Patienten eingeschlossen werden, was die Autoren zu der Schlussfolgerung bringt, dass in Zukunft bessere Dokumentationen erforderlich sein werden, um eine exaktere Bewertung zu ermöglichen und um die Effekte von fehlenden Dokumentationen besser einordnen zu können.
Beschrieben wurden u.a. Lidentzündungen, orbitale Thrombosen, Uveitis anterior, Chorioiditis, Vogt-Koyanagi-Harada Syndrom, akute retinale Nekrose, Herpes zoster im Bereich der Cornea und Transplantat-Abstoßungen, neuronale Makulopathien und retinale Gefäßverschlüsse. Außerdem traten Fälle von Neuritis nervi optici und Motilitätstörungen nach Impfungen auf. Dieses Review zeigt, wie entscheidend das Wissen um solche Zusammenhänge ist. Nur so können Assoziationen berichtet werden und gegebenenfalls auch zur Verbesserung der Impfungen und zu einem optimierten Einsatz beitragen. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass die Patienten mit Nebenwirkungen im Durchschnitt 46,9±18,4 Jahre alt waren und nach medizinischem Wissensstand nicht zur Risikogruppe für einen schweren Verlauf mit COVID-19 gehörten. Die Autoren betonen natürlich die Bedeutung der Impfung in der Pandemiebekämpfung, kommentieren aber abschließend, dass es gerade in Hinblick auf Booster-Impfungen wichtig ist, umfassendes Wissen und Guidelines auch für das augenärztliche Fachgebiet zu entwickeln.
Wir sehen hier einmal aufs Neue, wie entscheidend die freie Wissenschaft und Bildung für unsere Gesellschaft und die Medizin insgesamt ist.
In diesem Sinne verabschiede ich mich von Ihnen und wünsche allen einen wunderbaren gesunden und friedlichen Sommer.Und bleiben Sie gut informiert – auch mit Kompakt Ophthalmologie.
Ihr Detlef Holland