Auch das noch! Vaskulitis
Circa 3–5 % der Weltbevölkerung werden bis 2050 von rheumatologischen Erkrankungen betroffen sein – so die Prognose in der aktuellen Ausgabe von „The Lancet Rheumatology“. In Zentraleuropa betrifft diese Zunahme v.a. die rheumatoide Arthritis, Polymyalgia rheumatica und Granulomatose mit Polyangiitis-Wegener – Erkrankungen, die sich bei unseren Patienten überwiegend als bedrohliche Riesenzellarteriitis (RZA) und retinale Vaskulitis zeigen. Es ist daher angebracht, den aktuellen Stand zur Diagnostik und Therapie dieser Krankheitsbilder in den Blick zu nehmen und dabei auch wichtige iatrogene retinale Vaskulitiden – z.B. nach intravitrealer Medikamenteneingabe (IVOM) – einzubeziehen.
Die klassischen Symptome und Befunde der RZA sind uns gut geläufig. Problematisch sind Patienten, die davon abweichen. Eine gute Übersicht zu aktuellen diagnostischen Maßnahmen und Interventionen bietet der aktuelle Mini-Review von Jiang et al. Die Arterienbiopsie wird zwar als relevantes diagnostisches Vorgehen betrachtet, weist allerdings eine Sensitivität von gerade einmal 77 % auf. Die Falsch-Negativ-Rate bewegt sich laut Recherche der Autoren zwischen 9 % und 61 %! Als limitierende Faktoren werden Zeitpunkt der Biopsie, Länge der Gefäßprobe und sog. „Skip-Läsionen“ angeführt. Daher gewinnen alternative diagnostische Verfahren mittels Ultraschall, Magnetresonanz-Angiographie (MRA) und Positronen-Emissions-Tomographie (PET-CT) zunehmend an Bedeutung. Die Doppler-Ultraschall-Untersuchung, so die Autoren, sei zwar stark untersucherabhängig, aber sehr zuverlässig. Weitgehend unbemerkt von uns Augenärzten hat sich die PET-CT bei den Rheumatologen v.a. bei systemischer Beteiligung der RZA ohnehin als diagnostischer Standard etabliert. Das PET-CT weist als zusätzlichen Vorteil die Möglichkeit auf, wichtige Differenzialdiagnosen oder assoziierte Erkrankungen wie Neoplasien und Infekte zu entdecken. Auch für die Therapie der RZA ergeben sich Neuerungen. Unverändert bleibt in der Akutbehandlung der RZA die Pulstherapie mit Steroiden der „Goldstandard“. Versuche in der anschließenden Phase der Langzeitbehandlung die Steroidlast sukzessive zu reduzieren, scheitern häufig an Rezidiven. Als steroidsparende Therapie hat sich Tocilizumab, ein rekombinanter humanisierter monoklonaler anti-Interleukin-6-Rezeptor-Antikörper etabliert und kann leitliniengerecht eingesetzt werden. Bislang fehlen allerdings Daten zur „Real-World“-Situation, z.B. zur Frage der Behandlungsdauer und der Langzeitergebnisse. Um diese Lücke zu schließen, legen Samec und Kollegen von der Mayo Clinic in Rochester (USA) ihre Beobachtungen von 114 retrospektiv analysierten Patienten vor. Die Behandlung mit TCZ wurde bereits nach vier Monaten begonnen. Darunter konnte die Steroiddosis deutlich reduziert werden, und es wurden signifikant seltener Schübe verzeichnet. Die mediane Gesamtdauer der Behandlung betrug 2,3 Jahre und wurde gut toleriert. Etwa die Hälfte der Patienten konnten die Tocilizumab-Therapie nach ca. 17 Monaten beenden; allerdings erlitten 27 nach Absetzen einen Rückfall. Da die Dauer der Behandlung vor dem Absetzen keinen Einfluss auf das Risiko eines RZA-Rezidivs hatte, sind weitere Untersuchungen erforderlich und die Frage der optimalen Therapiedauer (und Biomarker?) bleibt offen.
Die RZA weist klinisch eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit dem Herpes Zoster ophthalmicus auf. Interessanterweise wurde wiederholt der Verdacht geäußert, dass Zoster-Viren an der Genese der RZA beteiligt sein könnten. Bereits seit längerem wird über ein erhöhtes Risiko von neurovaskulären Akutereignissen nach Zoster ophthalmicus spekuliert. Gupta und Mitarbeiter vom Scheie Eye Institute in Philadelphia (USA) werteten Daten von 25.720 Betroffenen und 75.924 Kontrollpersonen aus und kommen zum Ergebnis, dass im Monat unmittelbar nach der Zoster-Episode ein signifikant (p<0,001) erhöhtes Schlaganfallrisiko besteht. Dieser Zusammenhang bestätigt sich auch unter Berücksichtigung weiterer Schlaganfall-Risikofaktoren.
Das Varizella-Zoster-Virus steht auch an erster Stelle als Auslöser der retinalen Vaskulitis bei akuter Netzhautnekrose (ARN). Da das Krankheitsbild sehr selten ist, stehen wenige konkrete Handlungsanweisungen zur Verfügung. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass sich ein international renommiertes Experten-Team mit konkreten Empfehlungen dazu äußert.
Dazu wurden 34 Studien mit insgesamt 1090 Augen analysiert. Die wichtigsten Botschaften hier kurz zusammengefasst: Ein klarer Vorzug wird der kombinierten antiviralen Therapie mit systemisch und intravitreal appliziertem Wirkstoff gegeben. Auch die Wahl des intravitreal eingesetzten Wirkstoffes wird klar gewichtet. Ganciclovir wird gegenüber Foscarnet bevorzugt. Gründe dafür sehen die Autoren in der höheren effektiven Wirkstoffkonzentration von Ganciclovir in der Retina und auch dem längeren Verbleib im Gewebe. Trotz aller Bemühungen bleibt das Risiko für eine Netzhautablösung sowohl bei VZV- als auch bei HSV-induzierter ARN (bis zu 50 %) sehr hoch. Interessanterweise ist die Rate an Ablationes bei HSV-induzierter ARN höher als bei VZV-Infektion. Als eine mögliche Erklärung dafür wird eine häufige Resistenzentwicklung gegenüber Aciclovir vermutet. Unbeantwortet bleibt die Frage zur Dauer der antiviralen Behandlung und zu zusätzlichen Maßnahmen wie Laserkoagulation und/oder Vitrektomie.
Die bisher genannten Vaskulitiden des Auges treten überwiegend schicksalhaft auf und können über die Augenbeteiligung hinaus gehen. Die letzten Kommentare fokussieren auf aktuelle Studien zur iatrogen induzierten retinalen Vaskulitis – ein Thema das v.a. in der Behandlung der AMD mit intravitrealer anti-VEGF Injektion großes Aufsehen erregte. Gleich zwei umfassende Studien legen Langzeitbeobachtungen zu intraokularen Entzündungen (IOI) unter Brolucizumab vor. Bisherige Daten dazu stammen überwiegend aus Einzelbeobachtungen oder Kohorten mit kleinem Stichprobenumfang und kurzer Nachbeobachtungszeit. Kollegen aus Cleveland (USA) legen „Real-World“-Ergebnisse von 482 Augen vor. Kernaussagen: Es wird eine rel. geringe Inzidenz von 0,8 % Augen mit IOI berichtet – davon (0,4 %) mit einer retinalen Vaskulitis; bei zwei Augen lag gleichzeitig ein Gefäßverschluss vor. Zirka 2/3 der IOI treten innerhalb der ersten 3 Monate auf und werden in einem breiten Zeitraum von 4–34 Tagen nach der Brolucizumab-Injektion beobachtet. Als gute Nachricht sehen die Autoren die Tatsache an, dass das Risiko für eine IOI im Verlauf der Behandlung deutlich sinkt. Somit konnten die guten Langzeitergebnisse mit diesem langwirksamen und effektiven Wirkstoff für das Gros ihrer Patienten genutzt werden.
Etwas zurückhaltender äußern sich unsere französischen Kollegen. Sie berichten in der aktuellen Ausgabe von „Ophthalmology Retina“ über eine vergleichsweise höhere Inzidenz von 3,4 % Retina-Entzündungen (2,0 % Vaskulitis; 1,4 % mit Gefäßverschluss). Dies kann durch das prospektiv angelegte Studiendesign an insgesamt 505 Brolucizumab-behandelten Augen erklärt werden. Die Inzidenz von IOI war bei bislang behandlungsnaiven Augen im Vergleich zu vorbehandelten Patienten nicht unterschiedlich. Ähnlich zu den Beobachtungen der amerikanischen Kollegen traten nahezu alle IOI in der „Upload-Phase“ auf; ebenfalls oft erst spät nach der Brolucizumab-Injektion (Median: 25 Tage). Neben der gründlichen (Spaltlampen-)Untersuchung raten die Kollegen dazu, auf hyperreflektive „Dots“ im OCT zu achten, die sie als diagnostisch wichtigen Befund ansehen. Bei v. a. retinaler Vaskulitis empfehlen sie, vaskuläre Leckagen unbedingt durch eine weiterführende Fluoreszein-Angiographie abzuklären. Die Autoren gehen auch auf die Behandlungsoptionen bei IOI ein. Nahezu alle Patienten erhielten topische Kortikosteroide (76 %), die bei Retinabeteiligung immer mit systemischer oder intraokularen Kortikosteroiden ergänzt wurden. Damit gelang es, die IOI rasch zu kontrollieren und gute funktionelle Ergebnisse trotz IOI zu erreichen. Bei allen Patienten konnte auch nach IOI eine anti-VEGF Behandlung mit alternativen Wirkstoffen problemlos fortgesetzt werden. Großen Wert legen die Autoren in ihrem Resümee darauf, eine kritische Patientenauswahl vor Brolucizumab-Therapie vorzunehmen (keine IVOM bei Patienten mit vorangegangener Uveitis oder einer Anamnese von Autoimmunerkrankungen wie multipler Sklerose, Arthritis und Psoriasis).
Inzwischen wird klar, dass Vaskulitiden nach intraokularer Injektion mit Biologika einen „Klasseneffekt“ darstellen und bei einer Vielzahl unterschiedlicher Wirkstoffe auftreten können. Vereinzelte retinale Vaskulitiden wurden kürzlich auch bei anderen Wirkstoffen (z.B. intravitreale Rituximab-Gabe) berichtet.
Ebenfalls einen eindeutigen Klasseneffekt mit IOI weisen systemische Wirkstoffe aus der Onkologie auf. In der Oktober-Ausgabe von „Ophthalmology“ fassen Thibault et al. Daten aus dem französischen Pharmakovigilanz-Register zusammen. Darunter befinden sich 113 Patienten die unter Checkpoint-Inhibitoren und MAP-Kinase-Inhibitoren IOI entwickelten. Dabei konnten 4 „Nebenwirkungs- Cluster“ herausgestellt werden. Checkpoint-Inhibitoren wiesen das breiteste Spektrum mit anteriorer, posteriorer und Panuveitis auf; zudem wurden häufiger retinale Vaskulitis und Optikusneuropathie berichtet. BRAFi waren mit anteriorer und Panuveitis assoziiert, während sich MEKi-Inhibitoren mit einer frühen serösen Netzhautabhebung präsentierten.
Fazit: „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen“, soll schon Mark Twain gespottet haben. Ob Vaskulitiden des Auges künftig eher durch die eingangs erwähnten rheumatologischen Erkrankungen auftreten oder uns durch andere Ätiologien überraschen werden, bleibt offen. Persönlich bin ich mir sicher, dass wir bis 2050 noch viele spannende Entwicklungen erleben werden.
In diesem Sinne grüßen sie herzlichst
Uwe Pleyer und das gesamte Team von „Ophthalmologie Kompakt“