Persistenz und Resilienz: Faktoren, die nicht nur in der aktuellen Krisensituation gefordert sind
Angesichts der (noch) fortbestehenden Krise klingt es nahezu zynisch, einen „langen Atem“ zu fordern. Aber er ist in unserer Profession oft notwendig. Sei es, um zur korrekten Diagnose zu gelangen – oder um mit einer langfristigen Behandlung erfolgreich zu sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, willkommen zu einer neuen Online-Einführung zu Kompakt Ophthalmologie.
Zweifellos haben wir als Ophthalmologen oft den Vorteil „Blickdiagnosen“ stellen zu können. Aber es gibt sie, die Situationen, in denen Persistenz bei der differenzial- diagnostischen Abklärung notwendig ist. Von besonderer Bedeutung wird dies bei Erkrankungen, die im Zusammenhang mit einer Allgemeinerkrankung stehen und gegebenenfalls auch lebensbedrohlich sind. Dies geht auch aus der aktuellen Untersuchung von Rothova und Mitarbeitern (Rotterdam, Niederlande) hervor. In „Retina“ stellen sie die diagnostische Abklärung von nahezu 2000 Patienten vor. Alle waren mit der Verdachtsdiagnose einer intraokularen Entzündung vorgestellt worden. Bei jedem 20. Patienten verbarg sich allerdings am Ende ein „Maskerade Syndrom“ dahinter. Nach oft langwieriger diagnostischer Abklärung stellte sich eine „Pseudoentzündung“ heraus. Bei etwa einem Drittel der Betroffenen waren neoplastische Erkrankungen zu beobachten; hier dominierten die vital sehr bedrohlichen ZNS-Lymphome. Begünstigend dürfte sich hier ausgewirkt haben, das heute bereits der Nachweis von erhöhtem Interleukin-10 im Kammerwasser als diagnostischer Marker für ein intraokulares B‑Zell-Lymphom herangezogen werden kann. Da sich gleichzeitig die Therapiemöglichkeiten für diese bedrohten Patienten verbessert haben, könnte dies mittelfristig zu höherem Langzeitüberleben führen. Interessant, und für mich persönlich eher überraschend war, dass in dieser niederländischen Untersuchung bereits an 2. Stelle eine medikamenteninduzierte „Uveitis“ vorlag. Auch hier oft im Zusammenhang mit malignen Erkrankungen! Zu den auslösenden Substanzen gehörten innovative, onkologische Therapien wie z.B. MEK-Inhibitoren, die zu sekundären entzündlichen Veränderung und Makulaödemen führten. Ein Beleg dafür, dass diese Behandlungen immer breitere Anwendungen finden und wir eine sorgfältige Medikamentenanamnese erheben müssen!
Entzündliche Biomarker stehen auch im Mittelpunkt einer Arbeit zur altersabhängigen Makuladegeneration (AMD). Das Team um Wagner et al. (Colorado, USA) untersuchte einen Cocktail proinflammatorischer Mediatoren und konnte bei intermediärer AMD (iAMD ) eine Korrelation zur Progression der Makulaerkrankung finden. Die Ergebnisse dieser Studie (erschienen in „Ophthalmic Epidemiology“) legen eine Rolle für systemische, entzündliche Faktoren bei der iAMD nahe. Sie veranschaulichen, dass vor allem proinflammatorische Mediatoren mit einer Progression der iAMD assoziiert sein können. Schade, dass die Patientenstichprobe auf weniger als 100 Patienten begrenzt war. In der Multivarianzanalyse ergab sich kein isolierter Faktor für die Progredienz. Vielmehr rückten Kombinationen von serologischen Entzündungsmarkern in den Fokus. Konsequenzen? Es liegt auf der Hand: Ein besseres Verständnis der Rolle dieser Marker bei iAMD könnte enorme klinische Auswirkungen haben. Damit könnten besonders gefährdete Subpopulation gezielter einer frühen therapeutischen Intervention zugeführt werden. Andererseits stellt sich auch die Frage, inwiefern Patienten, die bereits eine anti-inflammatorische Therapie erhalten (aufgrund einer anderen Erkrankungen) möglicherweise einen protektiven Effekt erfahren…? Es bleiben also viele offene Fragen, die sich wiederum nur durch Persistenz und langfristig angelegte Untersuchungen belegen lassen.
Unsere Kollegen aus der Neurologie sind ebenfalls sehr an Frühindikatoren interessiert. Dies gilt vor allem für stetig steigende Zahl progressiv verlaufender neurodegenerativer Erkrankungen. Es ist mehr als 100 Jahre her, seit Alois Alzheimer die Alzheimer-Krankheit identifiziert hat, und fast 40 Jahre, seit die Rolle von Amyloid und Tau-Proteinen als molekulare Schlüsselfaktoren in der Pathophysiologie bekannt wurde. Heute wird die Alzheimer-Krankheit als ein vielschichtiger Prozess erkannt, der entlang eines Kontinuums fortschreitet. Aktuell wird von den Neurologen zur Frühdiagnostik die Akkumulation des Amyloid-Biomarkers in der Positronenemissionstomographie (PET) oder in der Zerebrospinalflüssigkeit betrieben. Damit können frühe Veränderungen, noch vor den kognitiven Veränderungen, nachgewiesen werden. Möglicherweise ließe sich dieser Aufwand deutlich reduzieren und eine Frühdiagnostik an ophthalmologischen Parametern festmachen. Zwei Jahre haben Kollegen aus Seoul (Südkorea) die Untersuchungsergebnisse aus PET, Magnetresonanztomographie (MRT), Elektroretinographie (ERG) und Optischer Kohärenztomographie (OCT) bei Patienten mit vor allem Alzheimer-Krankheit zusammengetragen. Byun et al. stellen in der aktuellen Ausgabe von „JAMA“ die Ergebnisse ihrer Studie vor. Kurz zusammengefasst konnten sie eine Korrelation der PET-CT Veränderungen zu einer Ausdünnung der Ganglienzellschicht nur in den oberen und superonasalen Teilfeldern des Papillen- OCT belegen. Dies Veränderungen unterschieden sich eindeutig von der Nervenfaserausdünnung, die wir als Frühindikator für ein Glaukom in den unteren und inferotemporalen Teilfeldern finden. Daraus folgern die Autoren, das bei Alzheimer-Erkrankung ein bisher anderer, unbekannter Mechanismus zugrunde liegt. Da sich klinische Studien einer früheren Intervention bei Alzheimer-Erkrankung nähern, könnte die OCT/ERG Diagnostik für die Frühdiagnostik dieser Demenzerkrankung bedeutsam werden.
Nicht nur bei der Diagnostik, auch bei der Therapie ist stetige und konsequente Aufmerksamkeit gefordert, um gute Ergebnisse zu erreichen. Dies trifft z.B. für Patienten mit okklusiver Vaskulitis zu. Zuletzt hatten akute Gefäßverschlüsse im Rahmen von intravitrealer Medikamenteneingabe für Aufsehen gesorgt. Sehr viel typischer treten diese hochproblematischen Veränderungen dagegen im Rahmen von Systemerkrankungen auf. Die Behandlung ist naturgemäß schwierig und langwierig. Steroide gelten im akuten Stadium der Erkrankung weiterhin als Therapie der Wahl; eignen sich jedoch nicht für eine Dauertherapie. US-amerikanische Kollegen (Lin et al., Arbeitsgruppe von Stephen Foster, Boston) haben in der aktuellen Ausgabe des „Canadian Journal of Ophthalmology“ gezeigt, dass eine intensive immunmodulatorische Therapie bei nicht infektiöser, okklusiver Vaskulitis zu einer Corticosteroidfreien, dauerhaften Remission führen kann. Im Spektrum der Systemerkrankungen finden sich: der Morbus Behçet, die nekrotisierende Vaskulitis, die Sarkoidose, die Multiple Sklerose, sowie der Lupus erythematodes. Der größte Teil der Patienten konnte erfolgreich mit unterschiedlichen Immunsuppressiva unter Einschluss von Biologika behandelt werden. Allerdings fanden sich unter den Patienten auch Therapieversager. Im Rahmen ihrer Ergebnisse weisen die Kollegen auf prognostisch ungünstige Faktoren hin. Als problematisch erwies es sich, wenn bereits bei Erstvorstellung eine Optikusatrophie vorlag, eine Makula-Ischämie bestand oder ein schlechter Ausgangs-Visus vorlag. Einmal mehr werden mit dieser Publikation die Verdienste der Arbeitsgruppe um S. Foster bezüglich längerfristiger Therapiemaßnahmen sichtbar. Sie sind Ergebnis einer über Jahrzehnte andauernden Bemühung zur optimalen Langzeitbehandlung von Patienten mit entzündlichen Augenerkrankungen. Persistenz, die sich für viele Patienten als erfolgreich erwiesen hat.
Fazit: Persistenz und Resilienz sind im täglichen Handeln wichtige Stützen, besonders in kritischen Situationen und in Krisenzeiten.
In diesem Sinne herzlichst Ihr
Uwe Pleyer und das gesamte Team von Kompakt Ophthalmologie