„Deep Learning“ – Hoffnung oder Hype?

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir begrüßen Sie ganz herzlich im Jahr 2020 und hoffen, dass Sie positiv gestimmt im neuen Jahr angekommen sind. Vielleicht hatten Sie ja Gelegenheit, in unserem „Kompakt Ophthalmologie“ Neues und Nützliches für Ihr tägliches Handeln zu finden und auch ein wenig über den Tellerrand zu schauen.
2020 – ein Jahr vieler Versprechungen – hat sich doch die WHO mit der „Vision 2020“ ein ambitioniertes Ziel gesetzt und der vermeidbaren Erblindung den Kampf angesagt. Inzwischen hat sich auf globaler Ebene viel getan. Die Erblindung durch Katarakt war noch vor 20 Jahren eine Herausforderung. Aktuell konnten durch Trainingsprogramme und Ausbildung von Ophthalmologen in vielen weniger entwickelten Regionen deutliche Fortschritte erreicht werden. Weltweit sind zahlenmäßig inzwischen Glaukom, Diabetes und AMD in den Fokus gerückt und nehmen eine dominante Rolle ein. Vor allem die Früherkennung dieser Erkrankungen steht im Vordergrund. Und es sind wieder die humanen Ressourcen, die uns bei rasch ansteigender (und alternder) Bevölkerung vor Herausforderungen stellen.
Die Lösung scheint auch schon in Sicht. Verheißende Stichworte sind: „Künstliche Intelligenz“ und „Deep Learning“, die es erlauben, großangelegte Screening-Programme durchzuführen. Allein schon die sprachliche Translation scheint nicht 1:1 zu gelingen, lässt sich doch der Begriff „Deep Learning“ gar nicht so recht und unmittelbar in den deutschen Sprachgebrauch integrieren. Auch im Duden ist der Begriff (noch) nicht zu finden.
Zurück zum Thema und der aktuellen Ausgabe von „Kompakt Ophthalmologie“. Die Herausforderung der Glaukom-Früherkennung und prognostische Einschätzung ist ein aktuelles Thema, das durch Deep Learning neue Impulse erhalten kann. Dazu haben wir einige aktuelle Arbeiten herausgesucht, die auf unterschiedliche Fragen in diesem Bereich erste Antworten aufzeigen könnten.
Zheng C et al. aus Shanghai widmen sich in der Dezember-Ausgabe von „Graefe’s Archive for Clinical and Experimental Ophthalmology“ der Frage, inwiefern sich die Diagnose Glaukom durch ein Deep-Learning-Programm sichern lässt. Bereits anhand einer relativ kleinen Studienpopulation konnten die Autoren klar belegen, dass die verwendete automatisierte Auswertung eine hohe Sensitivität und Spezifität aufweisen. Die Besonderheit der Arbeit liegt darin, dass hierzu ein bereits „vortrainiertes“ Programm verwendet wurde. Zudem hat sich im Vergleich zur Auswertung durch manuell erstellte Merkmale des Glaukoms das Deep-Learning-Programm als überlegen erwiesen.
Christopher M und Mitarbeiter aus San Diego, USA, berichten in „Ophthalmology“ über die Entwicklung und Evaluierung eines Deep-Learning-Systems, das eine Vorhersage des Schweregrads und der entsprechenden glaukomatösen Gesichtsfeldschädigung erlauben soll. Basierend auf >10.000 Perimetrie- und OCT-Befunden von mehr als 1000 Teilnehmern wurde die Korrelation und Progression morphologischer und funktioneller Veränderungen untersucht. Die Resultate der Studie belegen eine hohe Genauigkeit und Vorhersagemöglichkeit von Schweregrad und Progression. Die Autoren resümieren, dass der eingesetzte Algorithmus Klinikern gute Möglichkeiten bieten könnte und unter anderem die Häufigkeit von Funktionstests effektiver auf den individuellen Patienten abgestimmt werden könne.
Am Ende läuft die Verwendung von Deep Learning auf den unmittelbaren Vergleich von Mensch und Maschine hinaus. Genau dieser Frage gingen Jammal A und Mitarbeiter aus Durham, USA, in einer der letzten Ausgaben des „American Journal of Ophthalmology“ nach. Das Vorliegen einer glaukomatösen Optikus-Schädigung, die Einschätzung der C/D‑Ratio und die daraus resultierenden Gesichtsfeldveränderungen wurden zwei Glaukom-Experten oder dem Deep-Learning-Algorithmus zur Beurteilung vorgelegt. Nach Auswertung der Befunde von 490 Patienten war erkennbar, dass die „Variante Maschine“ im direkten Vergleich zu erfahrenen Untersuchern zumindest gleichwertig und zum Teil besser abschnitt. Auch hier schlussfolgern die Autoren, dass der verwendete Deep-Learning-Algorithmus die augenärztliche Beurteilung beim Screening der Bevölkerung bezüglich Glaukom-Veränderungen ersetzen könnte. Bisher ist allerdings keiner dieser Deep-Learning-Algorithmen allgemein verfügbar, geschweige denn zertifiziert und einsetzbar.
Diesbezüglich sind die Retinologen bereits einen Schritt voraus. Schließlich wurde bereits 2018 von der U.S. Food and Drug Administration (FDA) eine automatisierte Auswertung von Abbildungen bei diabetischer Retinopathie als diagnostisch zulässig anerkannt. Unter definierten gerätetechnischen Voraussetzungen wurde die Qualität der Auswertung so überzeugend eingeschätzt, dass sie zum Screening der diabetischen Retinopathie in der Primärversorgung als alltagstauglich eingestuft wurde. In diesen Tenor reiht sich auch die letzte Arbeit in dieser Ausgabe der „Kompakt Ophthalmologie“ ein. Son J et al. aus Korea, Seoul National University, weisen in ihrer Studie: „Development and Validation of Deep-Learning Models for Screening Multiple Abnormal Findings in Retinal Fundus Image“ in „Ophthalmology“ darauf hin, dass die häufigsten retinologischen Befunde zum Beispiel im Rahmen der diabetischen Retinopathie mit hoher Sicherheit (95–98%) korrekt erkannt werden. Aus über 100.000 Fundus-Bildern wurden dazu Informationen ausgewertet. Bei einem Dutzend ausgewählter Befunde wurden diese durch Deep Learning zumindest gleichwertig zur Experten-Beurteilung eingestuft.
Somit stellt sich die Frage: Bleibt der Augenarzt dabei künftig auf der Strecke? Das Risiko scheint gering. Bei einer kürzlich durchgeführten Umfrage der American Academy of Ophthalmology (AAO) waren mehr als 60% der amerikanischen Kollegen zuversichtlich, dass Deep Learning als ein eher unterstützendes Element in der Diagnostik angesehen werden kann. Gleichzeitig verbinden sich mit dieser Einschätzung die hohen Erwartungen, die an KI-basierte Technologien gestellt werden.
Und JA, es gibt sie bereits – die Ansicht, dass das Thema künstliche Intelligenz und Deep Learning bereits den Zenit medialer Präsenz überschritten hat. Dies schon, bevor sie tatsächlich im klinischen Alltag ankommen sind. Doch die Gefahr, dass gerade über Deutschland eine Welle hochtechnologischer Fortentwicklung hereinbrechen wird, ist eher gering. Das deutsche Gesundheitswesen ist nicht unbedingt als Innovationstreiber bekannt. Einerseits sind deutsche Krankenhäuser traditionsbehaftet und in ihrer Dynamik schwerfällig. Andererseits sind gerätetechnische Barrieren (siehe oben) gerade in Deutschland ein Thema. Schnittstellen erweisen sich bereits innerhalb eines größeren (Hauptstadt-)Klinikums als Problem. Die Versorgungsrealität hierzulande belegt, dass weniger als 20% der Digitalisierungsinitiativen in deutschen Krankenhäusern und Kliniken zeitlich und inhaltlich korrekt umgesetzt wurden. Bisher liegen auch noch zu wenige randomisierte, kontrollierte, klinische Studien vor, die eine konsistente Überlegenheit von Deep Learning belegen. Zudem könnten andere Faktoren wie Komorbiditäten und individuelle Besonderheiten im Einzelfall noch Fallstricke bieten. Ebenfalls eine effektive Bremse ist stets das breite Feld haftungsrechtlicher Fragen, das bislang offengeblieben ist.
Es kann jedoch erwartet werden, dass diese Lücken geschlossen werden. Schon jetzt ist erkennbar, dass mit Unterstützung durch Deep Learning nicht nur Kapazitätsengpässe im fachärztlichen Bereich gemildert werden können. Auch die Erkenntnis, dass diese Systeme der ärztlichen Einschätzung zum Teil bereits deutlich überlegen sind, erzeugt Handlungsdruck. Sind wir doch dazu verpflichtet, dass „Leistungsangebot dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis“ anzupassen (§135a SGB V).
Fazit aus all diesen Beobachtungen: Im neuen Dezennium zeichnen sich für unser Fach völlig neue Entwicklungen und Veränderungen ab. Viele als Hoffnung – manche sicherlich auch als Hype. Wir werden uns bemühen, Sie bei diesen aktuellen Entwicklungen mit entsprechenden Informationen zu begleiten. Dabei sind wir natürlich nicht frei von persönlicher Einschätzung und würden uns daher auch im neuen Jahr freuen, Ihr Feedback zu erhalten.
Herzlichst
Ihr Uwe Pleyer und das gesamte Team von „Kompakt Ophthalmologie“