Stan­dards sind immer zu hinterfragen

 

Dr. Detlef Holland, Heraus­ge­ber „Surgi­cal“ © privat

Liebe Lese­rin­nen und Leser von Kompakt Ophthalmologie,

schon wieder ist das Jahr zur Hälfte um. Die Zeit rast nur so dahin und wir rasen mit. Um in dieser heraus­for­dern­den Zeit unsere Arbeit erfolg­reich und zu unse­rer Zufrie­den­heit zu bewerk­stel­li­gen, erfor­dert es ein hohes Maß an Stan­dar­di­sie­rung und hoher Effektivität.

Eine inter­es­san­te Arbeit zum Thema Effi­zi­enz­op­ti­mie­rung veröf­fent­lich­ten kürz­lich Hanna et al. im „Jour­nal of Cata­ract and Refrac­ti­ve Surgery“. In ihrer Publi­ka­ti­on beschäf­tig­ten sie sich mit dem Thema virtu­el­le Nach­sor­ge nach Kata­rak­t­ope­ra­ti­on. Dazu wurden die Daten­ban­ken Medli­ne, Embase und CINAHL bis zum Okto­ber 2023 nach rele­van­ten Arti­keln und Daten durch­sucht. Ziel war es heraus­zu­fin­den ob es Belege für die Sicher­heit der tele­fo­ni­schen Nach­sor­ge nach Kata­rak­t­ope­ra­tio­nen gibt.

Das Risiko für Bias (RoB) wurde mithil­fe der Bewer­tungs­in­stru­men­te Newcast­le-Ottawa und RoB2 ermit­telt. Die Forschen­den berück­sich­tig­ten Studi­en, welche Pati­en­ten einschlos­sen, die im Rahmen einer virtu­el­len Nach­sor­ge (d. h. per Tele­fon oder Video­an­ruf) nach einer Kata­rak­t­ope­ra­ti­on unter­sucht wurden und über funk­tio­nel­le Ergeb­nis­se berich­te­ten. Inter­es­san­ter­wei­se zeig­ten sich keine signi­fi­kan­ten Unter­schie­de bezüg­lich der Kompli­ka­ti­ons­ra­ten und der post­ope­ra­ti­ven Sehschär­fe. Keine der Studi­en berich­te­te über schwer­wie­gen­de Neben­wir­kun­gen durch den Ersatz der persön­li­chen Nach­sor­ge durch die tele­fo­ni­sche Kontrol­le. Eine Studie kombi­nier­te virtu­el­le Nach­sor­ge mit persön­li­chen Besu­chen bei älte­ren Pati­en­ten und ergab, dass zusätz­li­che tele­fo­ni­sche Nach­sor­ge mit einer verkürz­ten chir­ur­gi­schen Gene­sungs­zeit und einer gerin­ge­ren Angst der Pati­en­ten verbun­den war. Einige Studi­en zeig­ten sogar, dass die Pati­en­ten die tele­fo­ni­sche Nach­sor­ge gegen­über der persön­li­chen als ange­neh­mer empfanden.

Wir wissen insge­samt noch wenig über die Bedeu­tung der virtu­el­len Nach­sor­ge. Die Akzep­tanz nach einer unkom­pli­zier­ten Linsen­ope­ra­ti­on scheint bei den Pati­en­ten aber sehr hoch zu sein. Auch die hohe Sicher­heit und die vergleich­ba­ren funk­tio­nel­len Ergeb­nis­se spre­chen für die virtu­el­le Nach­sor­ge. Weite­re Studi­en sind jedoch notwen­dig, um eine Opti­mie­rung der virtu­el­len Nach­sor­ge zu ermög­li­chen. Es stel­len sich hier sicher Fragen nach der Häufig­keit der Nach­sor­ge, der rich­ti­gen Beur­tei­lung dessen, ob und wann auf eine persön­li­che Kontrol­le umge­stie­gen werden muss, um Kompli­ka­tio­nen zur vermei­den. Zu klären gilt es auch, welche Pati­en­ten geeig­net sind, die tele­fo­ni­schen Fragen adäquat zu beant­wor­ten, und wer eher nicht dazu in der Lage ist. Lang­fris­tig werden wir wohl bei der aktu­el­len demo­gra­fi­schen Entwick­lung und dem Ärzte­man­gel nicht an dieser Form der Nach­sor­ge vorbei­kom­men. Video­calls werden hier­bei sicher ein wich­ti­ges Tool sein. Ebenso werden Online-Sehtests auch eine einfa­che Beur­tei­lung des Visus ermög­li­chen und so die Sicher­heit und Effi­zi­enz virtu­el­ler Kontrol­len erhö­hen. Wer weiß schon, ob nicht bald spezia­li­sier­te Robo­ter in selbst­fah­ren­den Autos unsere Pati­en­ten zu Hause post­ope­ra­tiv unter­su­chen werden. Möglich wird dies in naher Zukunft sicher sein. Es stellt sich hier nur wieder die große Frage der Kosten. Wenn im großen Stil medi­zi­ni­sche Robo­ter im Einsatz sind, werden die Kosten für die Produk­ti­on und die Anwen­dung jedoch schnell sinken. Es kommen wirk­lich span­nen­de Zeiten auf uns zu.

Neben der Tech­no­lo­gi­sie­rung unse­res Lebens spielt bei den endli­chen Ressour­cen unse­rer Welt die Nach­hal­tig­keit in allen Berei­chen unse­res Alltags eine wich­ti­ge Rolle. Jeder, der den Alltag in unse­ren Opera­ti­ons­sä­len kennt, weiß wie viel Müll wir täglich produ­zie­ren. Der Gesund­heits­sek­tor verur­sacht aktu­ell etwa 4,4–5,0 % der welt­wei­ten Treib­haus­gas­emis­sio­nen. Es stellt sich auto­ma­tisch die Frage, wie wir dieses Problem ange­hen können, ohne die Hygie­ne und Sicher­heit zu redu­zie­ren. Kiyat et al. haben hierzu eine inter­es­san­te Über­sichts­ar­beit publi­ziert. Wie in der zuvor bespro­che­nen Arbeit nutzte auch dieses Team eine umfang­rei­che Lite­ra­tur­re­cher­che. Für die Augen­heil­kun­de liegen natür­lich die größ­ten Einspar­mög­lich­kei­ten im Bereich der Kata­rakt­chir­ur­gie. Hier zeigen sich unglaub­li­che regio­na­le Unter­schie­de. Der CO2-Fußab­druck einer einzel­nen Kata­rak­t­ope­ra­ti­on beträgt so z.B. im Verei­nig­ten König­reich 181,8 kg CO2-Äqui­va­lent, während er im indi­schen Aravind-Modell ledig­lich 6 kg CO2-Äqui­va­lent beträgt. Die vergleich­ba­ren post­ope­ra­ti­ven Endo­ph­thal­mi­tis­ra­ten zwischen den im indi­schen System ange­wand­ten Wieder­ver­wen­dungs­pro­to­kol­len und den in Indus­trie­län­dern bevor­zug­ten Einweg­ma­te­ria­li­en bele­gen, dass Nach­hal­tig­keit ohne Beein­träch­ti­gung der Pati­en­ten­si­cher­heit erreicht werden kann. Wir sehen also, dass wir ein sehr hohes Einspar­po­ten­zi­al haben und dieses nur noch ausschöp­fen müssen. Aller­dings stel­len regu­la­to­ri­sche Vorga­ben in den Indus­trie­län­dern und die unter­schied­li­chen Einstel­lun­gen unter Augen­ärz­ten bezüg­lich der opera­ti­ven Stan­dards eine Heraus­for­de­rung für die Verbrei­tung nach­hal­ti­ger Prak­ti­ken dar. Wenn wir z.B. einen Blick auf die Regu­la­ti­ons­flut inner­halb der EU werfen, können wir erah­nen, mit welchen Heraus­for­de­run­gen wir uns hier konfron­tiert sehen, wenn wir Verän­de­run­gen errei­chen wollen. Der Vergleich zwischen Indien und dem CO2-Fußab­druck in Groß­bri­tan­ni­en legt die Vermu­tung nahe, dass viele der Vorschrif­ten, nach denen wir arbei­ten müssen, nicht die Sicher­heit erhö­hen und zugleich der Umwelt nicht zuträg­lich sind. Sicher­lich wird diese Situa­ti­on in vielen Berei­chen unse­rer indus­tria­li­sier­ten, west­li­chen Welt ähnlich sein und so die Umwelt­be­las­tung grund­los erhö­hen. In unse­rem schwer­fäl­li­gen büro­kra­ti­schen System wird es aber schwer sein, hier sinn­vol­le Verein­fa­chun­gen herbei­zu­füh­ren. Und es wird vermut­lich sehr lange dauern. Gleich­zei­tig ist die weite­re Forschung und Prozess­ent­wick­lung von großer Bedeu­tung für die Schaf­fung eines nach­hal­ti­ge­ren Gesund­heits­sys­tems für zukünf­ti­ge Generationen. 

Auch in der nächs­ten Publi­ka­ti­on geht es um die Kata­rakt­chir­ur­gie. Di Zazzo et al. publi­zier­ten in „Cornea“ eine span­nen­de Arbeit über die Prophy­la­xe von Ober­flä­chen­stö­run­gen nach der Opera­ti­on. 20–35 % der Pati­en­ten sind nach einer Kata­rak­t­ope­ra­ti­on aufgrund von Beschwer­den an der Augen­ober­flä­che unzu­frie­den. Neben dem klas­si­schen Sicca-Syndrom mit Meibom­drü­sen-Dysfunk­ti­on spielt eine alters­be­ding­te Parain­flamm­a­ti­on eine wich­ti­ge Rolle. In der prospek­ti­ven, rando­mi­sier­ten Studie von Di Zazzo et al. sollte der Einfluss einer immun­mo­du­lie­ren­den prophy­lak­ti­schen Thera­pie mit 0,1% Cyclos­po­rin-Augen­trop­fen unter­sucht werden. Einhun­dert Pati­en­ten mit Kata­rakt wurden vor einer Kata­rak­t­ope­ra­ti­on in vier Grup­pen einge­teilt. Die Grup­pen A (Pati­en­ten <65 Jahre) und B (>75 Jahre) wurden nur operiert. Die Grup­pen C und D, beide bestehend aus Pati­en­ten älter als 75 Jahre, erhiel­ten 30 Tage vor der Opera­ti­on Augen­trop­fen mit 0,1 % Cyclos­po­rin A bzw. CE-befeuch­ten­de Augen­trop­fen zwei­mal täglich. Die Pati­en­ten wurden 90 Tage nach der Opera­ti­on nach­be­ob­ach­tet und Störun­gen der Augen­ober­flä­che bzw. der Einfluss der prophy­lak­ti­schen Cyclos­po­rin Thera­pie untersucht.Gruppe B, in der die Pati­en­ten über 75 Jahre alt waren und keine Begleit­the­ra­pie erhiel­ten, wies während des gesam­ten Unter­su­chungs­zeit­rau­mes im Vergleich zu allen ande­ren Grup­pen eine stär­ker ausge­präg­te Ober­flä­chen­stö­rung auf. In der jungen Gruppe A waren die Sympto­me typi­scher­wei­se selte­ner. Gruppe C erziel­te an Tag 45 im Vergleich zu Gruppe B signi­fi­kan­te Reduk­tio­nen der Werte der konjunk­ti­va­len Symptom­be­wer­tung bzgl. des trocke­nen Auges, der konjunk­ti­va­len Hyper­ämie sowie der Meibom­drü­sen­funk­ti­ons­stö­rung. Die Tränen­film­auf­riss­zeit war zusätz­lich verlän­gert. Die Tran­skrip­ti­on von Entzün­dungs­mar­kern der Augen­ober­flä­che war in Gruppe C im Vergleich zu Gruppe B nach 90 Tagen signi­fi­kant redu­ziert. Auch im Vergleich mit der Gruppe, in der die Pati­en­ten nur Tränen­er­satz­mit­tel benutzt hatten, war die Cyclos­po­ringrup­pe mit gerin­ge­ren Entzün­dungs­zei­chen verge­sell­schaf­tet. Die Autoren schluss­fol­ger­ten, dass gerade bei Pati­en­ten über 75 Jahren die prophy­lak­ti­sche Gabe von Cyclos­po­rin einen posi­ti­ven Einfluss auf die Augen­ober­flä­che und damit auf die Pati­en­ten­zu­frie­den­heit nach einer Linsen­ope­ra­ti­on haben kann. Hier stellt sich natür­lich die Frage, wie gege­be­nen­falls eine prophy­lak­ti­sche Gabe dieser kosten­in­ten­si­ven Augen­trop­fen zu finan­zie­ren ist. Aus dem norma­len Arznei­mit­tel­bud­get ist dies sicher nicht möglich. Wird besse­re Medi­zin auch in diesem Fall zur einer indi­vi­du­el­len Gesund­heits­leis­tung? Wie können wir als Ärzte auf solche Daten reagie­ren und unsere Pati­en­ten opti­mal versor­gen? Der Alltag wird es zeigen. Mit diesem Edito­ri­al möchte ich mich in den Sommer verab­schie­den. Genie­ßen Sie die Urlaubs­zeit und tanken Sie Kraft für sich und Ihre Patienten.

Mit freund­li­chen Grüßen,
Detlef Holland

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