Eine ganze Welt in einem Tropfen

 

Dr. Detlef Holland, Heraus­ge­ber „Surgi­cal“ © privat

Liebe Lese­rin­nen und Leser von Kompakt Ophthalmologie,

im Norden Deutsch­lands erle­ben wir gerade einen wunder­ba­ren Herbst. Sonne, blauer Himmel und Herbst­far­ben verwöh­nen unsere Augen und sorgen für eine gute Stim­mung. Dies kommt gerade recht in einer Zeit, in der uns nicht nur aus gesund­heits­po­li­ti­schen Grün­den wirk­lich die Laune verdor­ben wird. Zum Glück kann uns der Fokus auf unser schö­nes Fach­ge­biet und die span­nen­den Entwick­lun­gen helfen, unse­ren Kompass auszu­rich­ten und in unse­rer tägli­chen Arbeit im Klei­nen posi­ti­ven Einfluss auf unser Umfeld zu nehmen.

Begin­nen möchte ich dieses Edito­ri­al mit einer Publi­ka­ti­on zum Thema der mini­mal­in­va­si­ven Flüs­sig­bi­op­sien aus dem Auge. Wolf et al. publi­zier­ten hierzu eine extrem inter­es­san­te Publi­ka­ti­on (J Proteo­me Res 2024;23(2):511–522.), die nicht nur für augen­ärzt­li­che Wissen­schaft­ler lesens­wert ist. Auch wenn bei diesen Biop­sien zum Teil nur gerin­ge Mengen an Flüs­sig­keit gewon­nen werden können, lassen sich teil­wei­se Tausen­de verschie­de­ner Prote­ine nach­wei­sen. Ange­wen­det werden diese Biop­sien im Bereich der Vorder­kam­mer und des Glas­kör­pers aber auch im Bereich des Tränen­films. Bei Letz­te­rem wird natür­lich die Flüs­sig­keit nicht mittels einer tast­säch­li­chen Biop­sie entnom­men, die Verar­bei­tung der Probe erfolgt aber mittels der glei­chen Tech­ni­ken. Ein entschei­den­der Vorteil der Flüs­sig­bi­op­sien ist, dass keine irrever­si­blen Funk­ti­ons­schä­den an okulä­ren Gewe­ben entste­hen. So können zum Beispiel zahl­rei­che Prote­ine aus allen Schich­ten der Netz­haut gewon­nen werden, ohne diese direkt zu punk­tie­ren. Die Probe­ent­nah­me kann vorteil­haf­ter­wei­se im ambu­lan­ten Umfeld erfol­gen. Sequen­zi­el­le Entnah­men ermög­li­chen es gege­be­nen­falls, eine thera­peu­ti­sche Reak­ti­on zu kontrol­lie­ren. Am leben­den Menschen können In-vivo-Krank­heits­me­cha­nis­men und deren Einfluss auf Prote­ine unter­sucht werden. Dieser Ansatz wird als TEMPO (Tracing Expres­si­on of Multi­ple Prote­in Orig­ins) bezeich­net. Darüber hinaus können Flüs­sig­bi­op­sien aus dem Auge eine höhere Sensi­ti­vi­tät aufwei­sen, da sie im Vergleich zum Blut, in dem Prote­in-Biomar­ker aufgrund des hohen Dyna­mik­be­reichs verdünnt auftre­ten, mole­ku­lar ange­rei­chert sind. Die Verar­bei­tung der Proben erfolgt unter ande­rem mittels Massen­spek­tro­sko­pie, mittels Aptamer-Tech­ni­ken oder Proxi­mi­ty Exten­si­on Essays. Die großen Daten­men­gen werden heut­zu­ta­ge unter ande­rem auch mit Anwen­dung der Künst­li­chen Intel­li­genz analy­siert und in Daten­ban­ken gespei­chert. Die Proben können bei ‑80 Grad Celsi­us in Bioban­ken für weite­re Unter­su­chun­gen gela­gert werde.n

Die Proteo­mik der Flüs­sig­bi­op­sie hat dazu beigetra­gen, unser Verständ­nis der mensch­li­chen Patho­phy­sio­lo­gie wesent­lich zu verbes­sern. Bei Pati­en­ten mit neovas­ku­lä­rer alters­be­ding­ter Maku­la­de­ge­ne­ra­ti­on und Diabe­ti­schem Maku­la­ödem kann die Proteo­mik des Kammer­was­sers helfen, die Reak­ti­on auf eine Anti-VEGF-Thera­pie vorher­zu­sa­gen. Hier besteht ein erheb­li­cher Bedarf, da etwa ein Drit­tel der Pati­en­ten trotz inten­si­ver Anti-VEGF-Thera­pie eine anhal­ten­de neovas­ku­lä­re Akti­vi­tät aufwei­sen. Bei Pati­en­ten mit auto­in­flamm­a­to­ri­scher Augen­er­kran­kung kann die Proteo­mik der Flüs­sig­bi­op­sie perso­na­li­sier­te Thera­pie­mög­lich­kei­ten erken­nen, welche auf die Krank­heits­ak­ti­vi­tät und ‑stadi­en abge­stimmt werden kann. Dadurch kann mögli­cher­wei­se auch die Anwen­dung unwirk­sa­mer Medi­ka­men­te vermie­den werden, worin eben­falls ein großer thera­peu­ti­scher Gewinn liegt. Wolf et al. schluss­fol­gern, dass diese Tech­no­lo­gie unglaub­lich viel Poten­zi­al in der Erkennt­nis von Erkran­kun­gen aber auch in der Thera­pie sowie der Erfolgs­kon­trol­le in der Augen­heil­kun­de bietet. Die Zahl der Anwen­dun­gen wird in der Zukunft also sicher deut­lich anstei­gen und unse­ren Alltag berei­chern. Zu fragen bleibt dabei natür­lich, wie kosten­in­ten­siv diese Tech­no­lo­gie in Zukunft sein wird. Wir dürfen gespannt sein.

Wie wich­tig die Analy­se großer klini­scher Daten­men­gen für unser Verständ­nis von Erkran­kun­gen in der aktu­el­len Zeit ist, verdeut­licht eine kürz­lich in „Ophthal­mo­lo­gy“ von Bondok et. al. veröf­fent­lich­te Publi­ka­ti­on (Ophthal­mo­lo­gy 2024;131(7):836–844) zur Sympa­thi­schen Ophthal­mie (SO). Die SO ist eine selte­ne bila­te­ra­le granu­lo­ma­tö­se Panu­vei­tis, die nach einem Trauma oder einer intraoku­la­ren Opera­ti­on auftre­ten kann. Die Inzi­denz von SO nach Opera­tio­nen vari­iert zwischen unter­schied­li­chen Studi­en deut­lich. Die Autoren woll­ten daher anhand großer Daten­men­gen mehr Klar­heit in die Inzi­denz brin­gen. Gerade für die Aufklä­rung vor opera­ti­ven Eingrif­fen kann diese Infor­ma­ti­on nicht nur von juris­ti­scher Bedeu­tung sein.

In einer syste­ma­ti­schen Über­prü­fung und Meta­ana­ly­se wurden die Daten­ban­ken MEDLINE, EMBASE und Coch­ra­ne von Beginn bis zum 1. Januar 2023 nach bevöl­ke­rungs­ba­sier­ten Studi­en zu SO nach chir­ur­gi­schen Eingrif­fen durch­sucht. Zwei Gutach­ter über­prüf­ten die Ergeb­nis­se unab­hän­gig vonein­an­der. Die abschlie­ßen­den Meta­ana­ly­sen umfass­ten 19 Studi­en, wobei 118 Fälle von SO nach 505.178 auslö­sen­den Ereig­nis­sen auftra­ten. Der geschätz­te Gesamtin­zi­denz­an­teil von SO nach chir­ur­gi­schen Eingrif­fen betrug 0,061% und die geschätz­te Inzi­denz­ra­te lag bei 9,24 Fällen pro 100.000 Perso­nen­jah­re. In der über­prüf­ten Lite­ra­tur wurde SO nach Glau­kom- und vitreo­re­ti­na­lem Opera­tio­nen mit 9 bzw. 6 Studi­en am häufigs­ten unter­sucht. Die beob­ach­te­ten Unter­schie­de in der Häufig­keit nach Glau­kom- und vitreo­re­ti­na­len Eingrif­fen waren statis­tisch nicht signi­fi­kant Auch wurde inter­es­san­ter­wei­se kein signi­fi­kan­ter Unter­schied in der Häufig­keit vor und nach 1975 fest­ge­stellt, als moder­ne intraoku­la­re Opera­ti­ons­tech­ni­ken aufka­men (0,060% vs. 0,058%).

Die Autoren folger­ten aus der Analy­se, dass die Sympa­thi­sche Ophthal­mie nach augen­ärzt­li­chen Eingrif­fen selten ist und sich die gerin­ge Inzi­denz in den vergan­ge­nen 5 Jahr­zehn­ten nicht verän­dert hat. Die posi­ti­ven Ergeb­nis­se nehmen dieser Erkran­kung erfreu­li­cher­wei­se also einen Groß­teil Ihres Schreckens.

Nach diesen beiden Publi­ka­tio­nen mit großen Mengen von Prote­inen und unglaub­lich hohen Fall­zah­len von Pati­en­ten wenden wir uns jetzt einer klini­schen Unter­su­chung an der Linsen­di­cke unse­rer ganz klei­nen Pati­en­ten zu. Wei et al. publi­zier­ten kürz­lich in „Opthal­mo­lo­gi­cal Sience“ über ihre Studie zur Linsen­di­cke von Augen mit Kata­rakt und gesun­den Augen bei Kindern im Alter zwischen 0 und 5 Jahren (Ophthal­mol Sci 2024;5(1):100588.). Kata­rakt bei Kindern ist nach wie vor eine der häufigs­ten Erblin­dungs­ur­sa­chen. Bis zu ein Fünf­tel der 1,4 Millio­nen blin­den Kinder welt­weit sind davon betroffen.

Der Zweck dieser Studie war es, den Zusam­men­hang zwischen Linsen­di­cke und Kata­rakt bei Proban­den im Alter von 0 bis 5 Jahren (Mittel­wert 14,6 ± 17,0 Monate) zu bestim­men. In der prospek­ti­ven, multi­zen­tri­sche Fall-Kontroll-Studie wurden 171 Augen von 118 Proban­den einge­schlos­sen und die Linsen­di­cke mittels Ultra­schall-Biomi­kro­sko­pie (UBM) ermit­telt. Die Studie zeigte, dass die quan­ti­ta­ti­ve UBM zur Bewer­tung der Linsen­di­cke heran­ge­zo­gen werden kann. Die durch­schnitt­li­che Linsen­di­cke der Augen ohne Kata­rakt betrug 3,60±0,17 mm, vergli­chen mit 3,16±0,61 mm bei Kata­rakt (p<0,0001). Eine Linsen­di­cke <3,5 mm war signi­fi­kant mit einem erhöh­ten Kata­rakt­ri­si­ko verbun­den. Welche Schlüs­se werden von den Autoren aus den Unter­su­chun­gen gezo­gen? Zur Früh­dia­gnos­tik bereits vor der Geburt könnte aufgrund der Daten­la­ge die Linsen­di­cke zu einem Scree­ning-Tool für Gynä­ko­lo­gen und Pädia­ter werden. So könnte die Ultra­schall­dia­gnos­tik des Fötus mögli­cher­wei­se schon Hinwei­se auf ein erhöh­tes Kata­rakt­ri­si­ko geben und das Neuge­bo­re­ne bereits einer inten­si­ve­ren augen­ärzt­li­chen Kontrol­le zufüh­ren. Extre­me Linsen­di­cken­wer­te könn­ten präna­tal mögli­cher­wei­se auch ein Hinweis auf höher­gra­di­ge Brechungs­feh­ler darstel­len gege­be­nen­falls eine früh­zei­ti­ge Bril­len­an­pas­sung nach sich ziehen. Da die Linsen­di­cke auch in einzel­nen moder­nen Linsen­be­rech­nungs­for­meln wie zum Beispiel der Olsen-Formel Anwen­dung findet, kann die UBM-Linsen­di­cken­mes­sung mögli­cher­wei­se helfen, die refrak­ti­ven Ergeb­nis­se zu opti­mie­ren. Falls die Säug­lin­ge nicht sofort eine Kunst­lin­se erhal­ten, kann zu einem späte­ren Zeit­punkt die Linsen­di­cke mögli­cher­wei­se auch helfen, die zukünf­ti­ge pseu­do­pha­ke Linsen­po­si­ti­on und even­tu­ell auch die zukünf­ti­ge axiale Längen­pro­gres­si­on vorher­zu­sa­gen. Da extrem dünne oder dicke Linsen mit erhöh­ten Kompli­ka­ti­ons­ra­ten verbun­den sind, kann die Dicken­mes­sung auch dazu beitra­gen eine Warnung bezüg­lich mögli­cher intra­ope­ra­ti­ver Kompli­ka­tio­nen darzu­stel­len. Aus diesen Messun­gen erge­ben sich also wieder­um viele neue Ansät­ze für inter­es­san­te klini­sche Forschung.

Zum Abschluss des Edito­ri­als wird es noch einmal etwas bluti­ger, mit einem Hinweis auf eine aktu­el­le Arbeit zur Bedeu­tung von Störun­gen der Blut­ge­rin­nung vor augen­ärzt­li­chen Eingrif­fen. Sucker et al. berich­ten aktu­ell in den „Klini­schen Monats­blät­tern“ in einer Zusam­men­fas­sung zu dieser Thema­tik (Klin Monbl Augen­heilkd 2024;241(8):944–951.). Störun­gen der Blut­ge­rin­nung können zu spon­ta­nen Blutun­gen und einem erhöh­ten Blutungs­ri­si­ko bei chir­ur­gi­schen Eingrif­fen führen. Dabei lassen sich patho­phy­sio­lo­gisch Störun­gen der primä­ren Hämo­sta­se, die zu Störun­gen der Throm­bo­zy­ten­ad­hä­si­on und Throm­bo­zy­ten­ag­gre­ga­ti­on führen, von Störun­gen der sekun­dä­ren Hämo­sta­se unter­schei­den, die durch Störun­gen der Fibrin­bil­dung gekenn­zeich­net sind. Da bei Gerin­nungs­stö­run­gen keine spezi­fi­schen Empfeh­lun­gen vorlie­gen, ist es wich­tig das indi­vi­du­el­le Blutungs­ri­si­ko der unter­schied­li­chen augen­ärzt­li­chen Opera­tio­nen einzu­schät­zen zu können. Glück­li­cher­wei­se unter­lie­gen unsere häufigs­ten Opera­tio­nen, wie die Kata­rak­t­ope­ra­ti­on oder die intra­vit­rea­le Injek­ti­on, nur einem gerin­gen Blutungs­ri­si­ko. Ein höhe­res Risiko haben aber bereits die Vitrek­to­mie, Stent­chir­ur­gie oder eindel­len­de Opera­tio­nen. Das höchs­te Risiko für Blutungs­kom­pli­ka­tio­nen besit­zen auf unse­rem Fach­ge­biet die selte­nen Orbita-Eingrif­fe und die große Lidchi­ru­gie. Für die Mehr­heit unse­rer Eingrif­fe sind Einflüs­se durch Gerin­nungs­stö­run­gen also erfreu­li­cher­wei­se nicht so rele­vant wie in ande­ren chir­ur­gi­schen Fachdisziplinen.

Mit diesen erfreu­li­chen Aussich­ten möchte ich dieses Edito­ri­al been­den und wünsche Ihnen allen einen wunder­ba­ren, posi­ti­ven Herbst.

 

Mit besten Grüßen aus Kiel

Ihr

Detlef Holland

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