Liebe Leserinnen und Leser von Kompakt Ophthalmologie,
im Norden Deutschlands erleben wir gerade einen wunderbaren Herbst. Sonne, blauer Himmel und Herbstfarben verwöhnen unsere Augen und sorgen für eine gute Stimmung. Dies kommt gerade recht in einer Zeit, in der uns nicht nur aus gesundheitspolitischen Gründen wirklich die Laune verdorben wird. Zum Glück kann uns der Fokus auf unser schönes Fachgebiet und die spannenden Entwicklungen helfen, unseren Kompass auszurichten und in unserer täglichen Arbeit im Kleinen positiven Einfluss auf unser Umfeld zu nehmen.
Beginnen möchte ich dieses Editorial mit einer Publikation zum Thema der minimalinvasiven Flüssigbiopsien aus dem Auge. Wolf et al. publizierten hierzu eine extrem interessante Publikation (J Proteome Res 2024;23(2):511–522.), die nicht nur für augenärztliche Wissenschaftler lesenswert ist. Auch wenn bei diesen Biopsien zum Teil nur geringe Mengen an Flüssigkeit gewonnen werden können, lassen sich teilweise Tausende verschiedener Proteine nachweisen. Angewendet werden diese Biopsien im Bereich der Vorderkammer und des Glaskörpers aber auch im Bereich des Tränenfilms. Bei Letzterem wird natürlich die Flüssigkeit nicht mittels einer tastsächlichen Biopsie entnommen, die Verarbeitung der Probe erfolgt aber mittels der gleichen Techniken. Ein entscheidender Vorteil der Flüssigbiopsien ist, dass keine irreversiblen Funktionsschäden an okulären Geweben entstehen. So können zum Beispiel zahlreiche Proteine aus allen Schichten der Netzhaut gewonnen werden, ohne diese direkt zu punktieren. Die Probeentnahme kann vorteilhafterweise im ambulanten Umfeld erfolgen. Sequenzielle Entnahmen ermöglichen es gegebenenfalls, eine therapeutische Reaktion zu kontrollieren. Am lebenden Menschen können In-vivo-Krankheitsmechanismen und deren Einfluss auf Proteine untersucht werden. Dieser Ansatz wird als TEMPO (Tracing Expression of Multiple Protein Origins) bezeichnet. Darüber hinaus können Flüssigbiopsien aus dem Auge eine höhere Sensitivität aufweisen, da sie im Vergleich zum Blut, in dem Protein-Biomarker aufgrund des hohen Dynamikbereichs verdünnt auftreten, molekular angereichert sind. Die Verarbeitung der Proben erfolgt unter anderem mittels Massenspektroskopie, mittels Aptamer-Techniken oder Proximity Extension Essays. Die großen Datenmengen werden heutzutage unter anderem auch mit Anwendung der Künstlichen Intelligenz analysiert und in Datenbanken gespeichert. Die Proben können bei ‑80 Grad Celsius in Biobanken für weitere Untersuchungen gelagert werde.n
Die Proteomik der Flüssigbiopsie hat dazu beigetragen, unser Verständnis der menschlichen Pathophysiologie wesentlich zu verbessern. Bei Patienten mit neovaskulärer altersbedingter Makuladegeneration und Diabetischem Makulaödem kann die Proteomik des Kammerwassers helfen, die Reaktion auf eine Anti-VEGF-Therapie vorherzusagen. Hier besteht ein erheblicher Bedarf, da etwa ein Drittel der Patienten trotz intensiver Anti-VEGF-Therapie eine anhaltende neovaskuläre Aktivität aufweisen. Bei Patienten mit autoinflammatorischer Augenerkrankung kann die Proteomik der Flüssigbiopsie personalisierte Therapiemöglichkeiten erkennen, welche auf die Krankheitsaktivität und ‑stadien abgestimmt werden kann. Dadurch kann möglicherweise auch die Anwendung unwirksamer Medikamente vermieden werden, worin ebenfalls ein großer therapeutischer Gewinn liegt. Wolf et al. schlussfolgern, dass diese Technologie unglaublich viel Potenzial in der Erkenntnis von Erkrankungen aber auch in der Therapie sowie der Erfolgskontrolle in der Augenheilkunde bietet. Die Zahl der Anwendungen wird in der Zukunft also sicher deutlich ansteigen und unseren Alltag bereichern. Zu fragen bleibt dabei natürlich, wie kostenintensiv diese Technologie in Zukunft sein wird. Wir dürfen gespannt sein.
Wie wichtig die Analyse großer klinischer Datenmengen für unser Verständnis von Erkrankungen in der aktuellen Zeit ist, verdeutlicht eine kürzlich in „Ophthalmology“ von Bondok et. al. veröffentlichte Publikation (Ophthalmology 2024;131(7):836–844) zur Sympathischen Ophthalmie (SO). Die SO ist eine seltene bilaterale granulomatöse Panuveitis, die nach einem Trauma oder einer intraokularen Operation auftreten kann. Die Inzidenz von SO nach Operationen variiert zwischen unterschiedlichen Studien deutlich. Die Autoren wollten daher anhand großer Datenmengen mehr Klarheit in die Inzidenz bringen. Gerade für die Aufklärung vor operativen Eingriffen kann diese Information nicht nur von juristischer Bedeutung sein.
In einer systematischen Überprüfung und Metaanalyse wurden die Datenbanken MEDLINE, EMBASE und Cochrane von Beginn bis zum 1. Januar 2023 nach bevölkerungsbasierten Studien zu SO nach chirurgischen Eingriffen durchsucht. Zwei Gutachter überprüften die Ergebnisse unabhängig voneinander. Die abschließenden Metaanalysen umfassten 19 Studien, wobei 118 Fälle von SO nach 505.178 auslösenden Ereignissen auftraten. Der geschätzte Gesamtinzidenzanteil von SO nach chirurgischen Eingriffen betrug 0,061% und die geschätzte Inzidenzrate lag bei 9,24 Fällen pro 100.000 Personenjahre. In der überprüften Literatur wurde SO nach Glaukom- und vitreoretinalem Operationen mit 9 bzw. 6 Studien am häufigsten untersucht. Die beobachteten Unterschiede in der Häufigkeit nach Glaukom- und vitreoretinalen Eingriffen waren statistisch nicht signifikant Auch wurde interessanterweise kein signifikanter Unterschied in der Häufigkeit vor und nach 1975 festgestellt, als moderne intraokulare Operationstechniken aufkamen (0,060% vs. 0,058%).
Die Autoren folgerten aus der Analyse, dass die Sympathische Ophthalmie nach augenärztlichen Eingriffen selten ist und sich die geringe Inzidenz in den vergangenen 5 Jahrzehnten nicht verändert hat. Die positiven Ergebnisse nehmen dieser Erkrankung erfreulicherweise also einen Großteil Ihres Schreckens.
Nach diesen beiden Publikationen mit großen Mengen von Proteinen und unglaublich hohen Fallzahlen von Patienten wenden wir uns jetzt einer klinischen Untersuchung an der Linsendicke unserer ganz kleinen Patienten zu. Wei et al. publizierten kürzlich in „Opthalmological Sience“ über ihre Studie zur Linsendicke von Augen mit Katarakt und gesunden Augen bei Kindern im Alter zwischen 0 und 5 Jahren (Ophthalmol Sci 2024;5(1):100588.). Katarakt bei Kindern ist nach wie vor eine der häufigsten Erblindungsursachen. Bis zu ein Fünftel der 1,4 Millionen blinden Kinder weltweit sind davon betroffen.
Der Zweck dieser Studie war es, den Zusammenhang zwischen Linsendicke und Katarakt bei Probanden im Alter von 0 bis 5 Jahren (Mittelwert 14,6 ± 17,0 Monate) zu bestimmen. In der prospektiven, multizentrische Fall-Kontroll-Studie wurden 171 Augen von 118 Probanden eingeschlossen und die Linsendicke mittels Ultraschall-Biomikroskopie (UBM) ermittelt. Die Studie zeigte, dass die quantitative UBM zur Bewertung der Linsendicke herangezogen werden kann. Die durchschnittliche Linsendicke der Augen ohne Katarakt betrug 3,60±0,17 mm, verglichen mit 3,16±0,61 mm bei Katarakt (p<0,0001). Eine Linsendicke <3,5 mm war signifikant mit einem erhöhten Kataraktrisiko verbunden. Welche Schlüsse werden von den Autoren aus den Untersuchungen gezogen? Zur Frühdiagnostik bereits vor der Geburt könnte aufgrund der Datenlage die Linsendicke zu einem Screening-Tool für Gynäkologen und Pädiater werden. So könnte die Ultraschalldiagnostik des Fötus möglicherweise schon Hinweise auf ein erhöhtes Kataraktrisiko geben und das Neugeborene bereits einer intensiveren augenärztlichen Kontrolle zuführen. Extreme Linsendickenwerte könnten pränatal möglicherweise auch ein Hinweis auf höhergradige Brechungsfehler darstellen gegebenenfalls eine frühzeitige Brillenanpassung nach sich ziehen. Da die Linsendicke auch in einzelnen modernen Linsenberechnungsformeln wie zum Beispiel der Olsen-Formel Anwendung findet, kann die UBM-Linsendickenmessung möglicherweise helfen, die refraktiven Ergebnisse zu optimieren. Falls die Säuglinge nicht sofort eine Kunstlinse erhalten, kann zu einem späteren Zeitpunkt die Linsendicke möglicherweise auch helfen, die zukünftige pseudophake Linsenposition und eventuell auch die zukünftige axiale Längenprogression vorherzusagen. Da extrem dünne oder dicke Linsen mit erhöhten Komplikationsraten verbunden sind, kann die Dickenmessung auch dazu beitragen eine Warnung bezüglich möglicher intraoperativer Komplikationen darzustellen. Aus diesen Messungen ergeben sich also wiederum viele neue Ansätze für interessante klinische Forschung.
Zum Abschluss des Editorials wird es noch einmal etwas blutiger, mit einem Hinweis auf eine aktuelle Arbeit zur Bedeutung von Störungen der Blutgerinnung vor augenärztlichen Eingriffen. Sucker et al. berichten aktuell in den „Klinischen Monatsblättern“ in einer Zusammenfassung zu dieser Thematik (Klin Monbl Augenheilkd 2024;241(8):944–951.). Störungen der Blutgerinnung können zu spontanen Blutungen und einem erhöhten Blutungsrisiko bei chirurgischen Eingriffen führen. Dabei lassen sich pathophysiologisch Störungen der primären Hämostase, die zu Störungen der Thrombozytenadhäsion und Thrombozytenaggregation führen, von Störungen der sekundären Hämostase unterscheiden, die durch Störungen der Fibrinbildung gekennzeichnet sind. Da bei Gerinnungsstörungen keine spezifischen Empfehlungen vorliegen, ist es wichtig das individuelle Blutungsrisiko der unterschiedlichen augenärztlichen Operationen einzuschätzen zu können. Glücklicherweise unterliegen unsere häufigsten Operationen, wie die Kataraktoperation oder die intravitreale Injektion, nur einem geringen Blutungsrisiko. Ein höheres Risiko haben aber bereits die Vitrektomie, Stentchirurgie oder eindellende Operationen. Das höchste Risiko für Blutungskomplikationen besitzen auf unserem Fachgebiet die seltenen Orbita-Eingriffe und die große Lidchirugie. Für die Mehrheit unserer Eingriffe sind Einflüsse durch Gerinnungsstörungen also erfreulicherweise nicht so relevant wie in anderen chirurgischen Fachdisziplinen.
Mit diesen erfreulichen Aussichten möchte ich dieses Editorial beenden und wünsche Ihnen allen einen wunderbaren, positiven Herbst.
Mit besten Grüßen aus Kiel
Ihr
Detlef Holland