HONG KONG (Biermann) – Die klinische Beurteilung von Sehstörungen wird durch einen Mangel an Instrumenten zur Einschätzung der Sehleistung in realen Situationen erschwert. Interaktive Virtual-Reality(VR)-Umgebungen könnten diesen Mangel ein Stück weit beheben.
Die über ein binokulares stereoskopisches VR-Headset angezeigten Situationen simulieren mutmaßlich alltägliche Aktivitäten und ermöglichen so eine Bewertung der Sehbehinderung. Eine dazu im JAMA Ophthalmology veröffentlichte Querschnittsstudie mit 98 Glaukom-Patienten legt nun nahe, dass die Sehbeeinträchtigungen mit den Lichtverhältnissen und den verschiedenen in einer VR-Umgebung gestellten Aufgaben assoziiert sind.
Außer den 98 Glaukom-Patienten wurden für die Studie 50 gesunde Probanden konsekutiv an einer Universitäts-Augenklinik rekrutiert. Alle Teilnehmer waren Chinesen. Durchgeführt bzw. ausgewertet wurde die Studie zwischen dem 30.8.2016 und 31.7.2017 bzw. vom 1.12.2017 bis 30.10.2018.
Bestimmt wurde die Sehschärfe, die Kontrastempfindlichkeit, das Gesichtsfeld (GF), der National-Eye-Institute-25-Item-Visual-Function-Questionnaire-Rasch-Score (NEI VFQ-25) sowie die VR-Behinderung, ermittelt aus 5 VR-Simulationen (Einkaufen im Supermarkt, Treppen- und Stadtnavigation am Tag und in der Nacht). Eine sehbedingte Behinderung wurde festgestellt, wenn der Score der VR-Behinderung außerhalb des normalen altersbereinigten 95%-Konfidenzintervalls (KI) lag.
Das mittlere Alter (SD) der Glaukom-Patienten betrug 49,8 (11,6) Jahre. 60 Patienten waren Männer (61,2%). Bei den 50 gesunden Probanden betrug das Durchschnittsalter 48,3 (14,8) Jahre; 16 Probanden waren Männer (32,0%). Die Patienten mit Glaukom hatten unterschiedliche Grade an Gesichtsfeldausfällen (122 Augen bzw. 62,2% hatten mittelschwere oder fortgeschrittene GF-Defekte).
Die Zeit, die die Glaukom-Patienten im Vergleich zu den gesunden Probanden zur Durchführung der Aktivitäten benötigten, war für die Einkaufssimulation um 15,2 Sekunden (95%-KI 5,5–24,9) bzw. 34,1% (95%-KI 12,4–55,7) länger, für die nächtliche Treppennavigation um 72,8 Sekunden (95%-KI 23,0–122,6) bzw. 33,8% (95%-KI 10,7–56,9) länger und für die nächtliche Stadtnavigation um 38,1 Sekunden (95%-KI 10,9–65,2) bzw. 30,8% (95%-KI 8,8–52,8) länger.
Die mittlere Dauer (SD) unterschied sich nicht signifikant zwischen der Glaukom- und der Kontrollgruppe bei der Treppennavigation am Tag (203,7 [93,7] vs. 192,9 [89,1] Sekunden, p=0,52) und bei der Stadtnavigation am Tag (118,7 [41,5] vs. 117,0 [52,3] Sekunden, p=0,85).
Mit jeder Dezibelabnahme in der binokularen Gesichtsfeld-Sensitivität stieg das Kollisionsrisiko um 15% bei der nächtlichen Treppennavigation (Hazard Ratio [HR] 1,15; 95%-KI 1,08–1,22) und bei der nächtlichen Stadtnavigation (HR 1,15; 95%-KI 1,08–1,23).
58 Patienten (59,1%) mit Glaukom hatten in mindestens einer simulierten Aufgabe bei Tage eine Sehbehinderung. In der Nacht-Simulation hatte ein höherer Anteil der Patienten eine Sehbehinderung in der städtischen Umgebung (27 von 88 bzw. 30,7%) und bei den Treppen (27 von 90 bzw. 30,0%) als bei Tag (in der Stadt: 7 von 88 bzw. 8,0%; bei den Treppen: 19 von 96 bzw. 19,8%). Der Gesamtwert für die VR-Behinderung wurde mit dem NEI VFQ-25 (R2=0,207) assoziiert.
Die Virtual-Reality-Simulation ermögliche es den Ärzten, zu verstehen, wie Sehbehinderungen zu Beeinträchtigungen im täglichen Leben der Patienten führen. In der Folge könne dies möglicherweise die Bewertung von Sehbehinderungen in der klinischen Versorgung verbesseren, schlussfolgern die Studienautoren aus den USA, Singapur und China.
(isch)