
Liebe Leserinnen und Leser von Kompakt Ophthalmologie,
viel zu spät schreibe ich in diesem Oktober an diesem Editorial. Eigentlich war eine pünktliche Ausgabe Anfang Oktober geplant. Ende September ist jedoch mein geliebter Vater nach kurzer Krankheit in einem sehr hohen Alter dann plötzlich und schneller als erwartet verstorben. Dieses Ereignis hat mich viel mehr betroffen gemacht, als ich es erwartet hätte, da er ein wirklich biblisches Alter erreicht hatte. Der Verlust hat mir jedoch gezeigt, wie wichtig in unserem Leben das Zwischenmenschliche ist. Wie wichtig es ist, im Leben einen Mentor zu haben, auch Menschen als Vorbilder in seiner Nähe zu wissen und durch diesen Ansporn und Motivationen für sein Leben zu gewinnen. Mein Vater war auch Augenarzt und war mir in seiner ruhigen und wenig aufdringlichen Art immer ein Vorbild, ohne dabei aktiv meinen Werdegang beeinflussen zu wollen.
Ich wollte auf der diesjährigen ESCRS-Tagung in Kopenhagen eigentlich viele Informationen zur Künstlichen Intelligenz (KI) in unserer Arbeitswelt sammeln – erstaunlicherweise war jedoch sehr wenig darüber zu berichten.
Ich frage mich nun aber immer mehr, ob wir mit der KI nicht möglicherweise doch auf dem Holzweg sind. Was ist, wenn nur noch die KI gefragt wird, uns ChatGPT alle Antworten gibt und wir keine Menschen mehr an unserer Seite wissen, die uns wirklich fundiert Fragen beantworten können? Die mit viel Lebenserfahrung auch die menschliche Seite unserer Berufswelt immer wieder aufs Neue ins richtige Fahrwasser bringen? Ich denke, die KI mit all ihren unterschiedlichen Anwendungen ist Fluch und Segen zugleich. Die Entwicklungen sind auf keinen Fall mehr zurückzudrehen und wir sollten sie auch in unserem Arbeitsleben nutzen. Wir sollten jedoch nicht unkritisch und ungefiltert alles akzeptieren, was da auf uns zukommen wird.
Was ist, wenn eine neue Generation von Ärzten heranwächst, die nur noch mit KI arbeitet? Bleiben nicht die persönliche Erfahrung und die persönliche Einschätzung von Dingen komplett auf der Strecke? Der Mensch wird möglicherweise faul werden, und unser Gehirne werden vielleicht nicht mehr gefordert sein. Ich glaube nicht, dass dies in unserem Sinne ist. Jeder von uns kennt es doch aus der eigenen Erfahrung: dass man allein, was die Kopfrechenaufgaben angeht, im Laufe der Zeit nach dem Abitur immer fauler geworden ist und man schnell mal zum Taschenrechner im Handy greift. Dies kann langfristig nicht der richtige Weg sein kann, und trotz aller Vorteile, die die KI mit sich bringen wird, sollten wir immer noch in der Lage sein, aus persönlicher Erfahrung zu lernen, unsere persönlichen Erfahrungen an andere Kollegen und junge Unerfahrene in der Ausbildung weitergeben zu können.
Wenn alles nur noch durch die KI bestimmt ist, wird unser Leben mit Sicherheit sehr arm werden. Das Zwischenmenschliche könnte in der Arbeitswelt immer mehr auf der Strecke bleiben. Wünschen wir uns das? Wer betreut z.B. den alten Menschen mit AMD in der Zukunft noch im Rahmen der Therapie auf menschliche Art und Weise und steht an ihrer Seite, wenn die Therapie ausgereizt ist und eine funktionelle Erblindung bevorsteht? Hoffentlich nicht ein durch KI generierter Ausdruck auf einem Formular, das dem Patienten nach der Diagnostik per Mail zugestellt wird. In diesem Sinne denke ich, es ist wirklich wichtig, innezuhalten und immer wieder zu sehen, welche Entwicklungen die KI nimmt, wie sie unser Arbeitsleben beeinflusst und wie wir es anstellen können, dennoch auf dem Weg die Menschlichkeit nicht immer mehr zu verlieren. Dies gilt sowohl für die Therapie als auch für das individuelle Teaching von jungen Kollegen.
Da ich es, wie Ihnen ja bereits erläutert, für überaus wichtig erachte, mit der KI immer auf Augenhöhe zu sein, starte ich nun in den informativen Teil des Editorials mit einigen aktuellen Informationen.
Howard Larkin berichtete im September „Eurotimes“ über vier unterschiedliche KI-Anwendungen in unserem Fachgebiet.
Die von Alcon entwickelte Adi-Plattform unterstützt die Verwaltung aller organisatorischen Prozesse innerhalb eines OP-Zentrums. Sie soll Lieferkettenprobleme lösen, wie z.B. die Unsicherheit, welche Materialien verfügbar sind, ohne dass manuelle Kontrollen erforderlich sind. Auch die Übermittlung vollständiger Patientendaten von der Klinik an das Operationszentrum soll einfach und vollständig ohne Zeitverlust und Personalaufwand erfolgen. Die Plattform ist in die Vision Suite von Alcon integriert und beinhaltet die zwei Module Clinic Connect und Inventory Manager. Clinic Connect sammelt und teilt Operationsinformationen von Kliniken und Operationszentren über eine zentrale Datenbank, die in Echtzeit aktualisiert wird, um Material zu planen und zu bestellen. Das Modul ist mit dem Inventory Manager verbunden, der Alcon-IOLs automatisch per Radio Frequency Identification (RFID) verfolgt, den Materialverbrauch und den zukünftigen Bedarf überwacht sowie benötigtes Material online reserviert und bestellt. Bei RFID handelt es sich um eine kontaktlose Identifizierungstechnologie, die Daten mithilfe von Funkwellen überträgt. Die KI-unterstütze Software soll zu reibungslosen Abläufen im OP führen und so die Qualität der Versorgung weiter verbessern.
Von wirtschaftlicher Bedeutung für unsere Zentren kann auch der von AVTR Med entwickelte KI-Assistent sein, der die Verwaltungskosten in Augenarztpraxen um 50 Prozent senken soll. Es soll dadurch auch eine wichtige Zeitersparnis auf ärztlicher Ebene entstehen, da viele Ärzte immer noch viel zu viel Zeit mit nicht ärztlicher Tätigkeit verbringen. KI kann bei Aufgaben wie Terminplanung, Versicherungsprüfung, Patientennachsorge und Mitarbeiterschulung helfen. Beispielsweise können Patientenanrufe zur Terminvereinbarung oder ‑verschiebung von einem KI-Avatar übernommen werden. Bei Fragen kann das System diese automatisch an einen Mitarbeiter weiterleiten, was die Mitarbeiterproduktivität deutlich steigert. Diese Anwendungen der KI können möglicherweise dazu beitragen, die Versorgung unserer Patienten zu optimieren und durch die Zeitersparnis mehr Zeit für eine Patientenversorgung zu gewinnen, bei der der Mensch im Vordergrund steht.
Die Amaros KI-Plattform ermöglicht es, klinische Daten nach speziellen Suchabfragen zu scannen, wodurch Daten für Forschungsprojekte schnell und effizient ermittelt werden. Für jeden, der noch die Zeiten der Papierakte und die daraus resultierende zeitaufwendige Datenanalyse in den Archiven kennt, erscheinen solche Systeme wie ein Wunder. Für die Forschung kann es elektronische Datensätze schnell durchsuchen, um Patienten zu identifizieren, die bestimmte Ein- und Ausschlusskriterien für Studien erfüllen. Auch wirtschaftliche und versorgungsrelevante Fragen können schnell beantwortet werden. So kann das System beispielsweise Tausende von Datensätzen durchsuchen, um Patienten mit Katarakt zu identifizieren, die in letzter Zeit nicht untersucht wurden, damit diese kontaktiert werden können. Amaros KI beantwortet auch nahtlos relevante Geschäftsfragen, beispielsweise, wie viel Umsatz Premium-Linsen dem Unternehmen bringen. Die Software hilft uns also dabei, nicht im Trüben zu fischen, sondern schnell Klarheit über interessante Forschungsprojekte und gleichzeitig auch über wirtschaftliche Fragen zu gewinnen.
Carl Zeiss Meditec verfolgt zurzeit drei KI-Projekte zur Verbesserung der Ergebnisse von Kataraktoperationen. Das erste Projekt ist eine IOL-Berechnungsformel, die IOL-Konstanten durch eine für jedes einzelne IOL-Modell optimierte KI-Formel ersetzt, um die refraktiven Ergebnisse besser vorherzusagen. Das System kann derzeit mit 13 Linsen von Zeiss, Alcon, Bausch + Lomb und Johnson & Johnson verwendet werden. In Tests erzielte die KI-Formel von Zeiss verbesserte Ergebnisse im Vergleich mit anderen verfügbaren IOL-Formeln. So erreichte die Zeiss-Formel bei kurzen Augen in 73 Prozent der Augen eine Zielbrechung von 0,5 dpt, verglichen mit 67–69 Prozent bei einigen der leistungsstärksten Alternativen. Bei Augen nach LASIK/PRK erreichte Zeiss in 76 Prozent der Fälle eine Zielbrechung von 0,5 dpt und übertraf damit die Konkurrenzprodukte Barrett True‑K oder Oculix. Zeiss bietet außerdem ein chirurgisches Videoanalyseprogramm an, das mithilfe von KI jeden Schritt des chirurgischen Prozesses segmentiert und bewertet. Die OP-Videos werden dazu einfach in die Cloud hochgeladen. Dies kann die Geschwindigkeit, Effizienz und Genauigkeit des Eingriffs verbessern. Außerdem entwickelt Zeiss ein KI-gestütztes Tool für die präoperative Makula-OCT-Analyse, das bei der Auswahl von Patienten für Premium-Linsen helfen und die Behandlungsergebnisse verbessern soll. Das System soll eine Reihe potenzieller Makulaerkrankungen erkennen und vorläufige Diagnosen erstellen.
Wenden wir uns zum Schluss nun noch einigen aktuellen Publikationen zu.
Eine Arbeitsgruppe aus Frankreich (Beltramone M et al. Rev Neurol [Paris] 2025;181(4):284–288.) berichtet über eine seltene, aber für die betroffenen Patienten schwerwiegende Nebenerscheinung nach augenchirurgischen Maßnahmen, dem Trigeminoautonomen Kopfschmerz. Mit sechs Fällen ist diese aktuelle Zusammenstellung die größte in der Literatur, die über sekundäre Fälle von schwerem Kopfschmerz berichtet, der in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit Augenoperationen steht. Die Symptomatik entspricht nach den Kriterien der Internationalen Kopfschmerz Gesellschaft dem Cluster Kopfschmerz bzw. der Hemicrania continua. Bekannter sind diese Schmerzattacken eigentlich im Zusammenhang mit Tumor‑, Trauma- oder Gefäßerkrankungen. Kenntnis über diesen Zusammenhang kann für unsere Patienten also von großer Bedeutung sein, da diese Form von Kopfschmerz häufig durch eine medikamentöse Therapie gelindert werden kann und es somit wichtig erscheint, die Patienten schnell zu entsprechenden Spezialisten zu überweisen.
In der vergangenen Zeit gewinnt die Rotlichttherapie (RLT) in der Augenheilkunde immer mehr an Bedeutung. Daher ist der kürzlich erschienene Übersichtsartikel von Xue und Zhou (Graefes Arch Clin Exp Ophthalmol 2025;263(6):1515–1522.) hier sehr empfehlenswert. Die Anwendungsbereiche dieser nicht invasiven Therapie nehmen ständig zu, sie wird bereits in der Behandlung der Myopie, des Glaukoms, der AMD und des trockenen Auges eingesetzt. Ursprünglich wurde Rotlicht zur Wundheilung bei Infektionen und Schmerzlinderung verwendet. Es zeigt sich nun aber, dass die RLT die Myopieprogression abmildern kann, einen Schutz von Netzhautzellen von Glaukompatienten bewirkt, Entzündung im Rahmen der AMD reduziert und Symptome des Sicca Syndroms lindern kann. Trotz des gestiegenen Forschungsinteresses bleiben jedoch Fragen zur optimalen Dosierung, Sicherheit und Standardisierung offen, welche in der Zukunft geklärt werden müssen. Es wird jedoch erwartet, dass die RLT in Zukunft eine bedeutende Rolle bei der Behandlung chronischer Augenerkrankungen spielen wird. Die Autoren fassen in ihrem Artikel die neuesten Fortschritte und Prinzipien der RLT zusammen, diskutieren ihr synergetisches Potenzial mit bestehenden Behandlungsmethoden sowie die Integration der RLT mit KI und anwenderfreundlichen tragbaren Technologien.
Wie Sie sehen, stolpern wir auch hier zum Abschluss wieder über die Künstliche Intelligenz. Wir bleiben auch in Zukunft daher immer am Ball und informieren Sie in KOMPAKT OPHTHALMOLOGIE immer über die neuesten Trends.
Mit kollegialen Grüßen,
Ihr Detlef Holland
